Die gelöschte Welt
Tarnung für die Nacht. Die Jacke ist genauso gearbeitet. Sie spannt ein wenig in den Schultern, weil ich ein paar Fingerbreit größer bin als der Vorbesitzer. Dieser Anzug soll jede geräuschlose Form von Mord und Totschlag erleichtern.
Ich trage eine Ninja-Kluft. Beim Anziehen stieß ich im Schritt auf eine einsame, riesige tote Biene. Ich kreischte nur deshalb nicht, weil ich ein Mann der Tat und ein wichtiger Mensch bin, der mit ernsthaften Dingen beschäftigt ist. Außerdem sah mir Elisabeth Soames zu. Allerdings zog ich das Tier an einem riesigen Flügel heraus und ließ es breit grinsend in den Papierkorb im Taubenschlag Nummer eins fallen. Meine ganze untere Körperhälfte war eiskalt. Wahrscheinlich war das sogar ganz gut, denn vorher hatte ich beobachtet, wie sich Elisabeth Soames in ihren eigenen Ninja-Anzug zwängte (irgendwann griff sie mal ein Ninja an und verlor dabei seine Kleidung; ich wusste nicht, ob dies nach dem Tod oder schon vorher geschehen war, und legte auch keinen großen Wert darauf, es zu erfahren). Dabei hatte ich mir überlegt, dass ich sie nicht gleich noch einmal ins Bett zerren konnte. Wir müssen uns jetzt konzentrieren. Ich würde sie gern noch einmal ausgiebig in den Arm nehmen und spüren, aber dies ist nicht der richtige Augenblick. Falsch, falsch, falsch. Ich stoße ein lautes Knurren aus. Sie dreht sich um.
Als ich den Blick hebe, ist sie direkt vor mir und betrachtet mich geduldig. Es ist nicht die Art von Geduld, die einem geschenkt wird, sondern diejenige, für die man sich bewusst entscheidet. Ich murmele etwas. Sie küsst mich zart auf eine Wange und sieht mir in die Augen.
»Bereit?«
»Ja.«
Wir treten in die Dämmerung hinaus.
Elisabeths Dach liegt nur ein paar Stockwerke hoch, und vom benachbarten höheren Gebäude hängt eine Feuerleiter herunter. Irgendwann hat sie ein Seil daran befestigt, das sie jetzt herunterzieht, damit wir hochklettern können. Es ist ziemlich weit – das Nachbarhaus hat fünfzehn oder noch mehr Stockwerke. Wir klettern an Fenstern, Küchen und streitenden Familien vorbei, belauschen Liebende und bekommen Teile von Fernsehshows mit. Wir klettern. So langsam wird mir klar, wie sie derart drahtig und ausdauernd sein kann. Als wir oben ankommen, führt sie mich über einen Hinderniskurs, der durch die Tatsache, dass es ständig bergauf geht, noch aufregender wird. Schließlich sind wir zwanzig Stockwerke hoch, und ihre Bewegungen verändern sich. Sie wird vorsichtig, wir sind dem Ziel nahe.
Dieses Dach ist rutschig und fällt zur fernen Kante hin ab. Die Ninjaschuhe haben für solche Zwecke kleine Steigeisen, aber mein Spender hatte winzige Füße. Mädchenfüße. Hoffentlich war er überhaupt ein Mann. Ich würde nicht gern die Sachen eines toten Mädchens tragen. Am hinteren Ende des Daches erhebt sich eine weitere, riesige Mauer. Endlos ragt sie auf, vielleicht siebzig weitere Stockwerke. Glücklicherweise gibt es einen Aufzug, der sich wie eine Plattform zum Fensterputzen an der Außenseite befindet. Wir fahren bis ganz nach oben. Die kleinen Elektromotoren heulen und jaulen, ein starker Wind weht. In Filmen kämpfen die Leute immer auf solchen Plattformen, aber das sollte man besser lassen. Man sollte lieber höflich dort sitzen, über die Lieblingsrestaurants in der Stadt da unten reden und sich vielleicht einander vorstellen. Man sollte warten, bis man ganz oben oder ganz unten ankommt, aussteigen und dann in dem Wissen kämpfen, dass man den Boden unter den Füßen hat und eher an Gewalttätigkeiten als durch die Schwerkraft sterben wird. Oder man beschließt, die Differenzen bei einem Kaffee und einem Sandwich in der Bar im vierzigsten Stock beizulegen. Auf direktem Wege ist die Stadt der Lichter da unten nur wenige Sekunden entfernt. Die Bretter unter unseren Füßen sind stark genug, um darauf zu stehen und zu sitzen. Läuft man, so biegen sie sich durch. Sie haben einige Risse. Sie sind zwar mit dem Rahmen verschraubt, aber eine Schraube ist lose und die andere zerbrochen. Fensterputzer haben Nerven wie Drahtseile.
Das Dach der Jorgmund Company, über uns beben die Neonröhren des Firmenzeichens im Wind. Hier oben ist es eiskalt. Elisabeth setzt Dr. Andromas' Fliegerbrille auf, um die Augen zu schützen. Da ich selbst keine Fliegerbrille habe, klappe ich die Ninja-Kapuze hoch und kneife die Augen zusammen. Es nützt nicht viel. Der Wind ist eine Art örtlicher Hurrikan, ein heulender Wirbelsturm, der zwischen den hohen
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