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Die gelöschte Welt

Die gelöschte Welt

Titel: Die gelöschte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Harkaway
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Gebäuden entsteht. Tagsüber wäre es beängstigend, im Dunkeln ist es irreführend und verwirrend. Man könnte sich gegen ihn stemmen, um sich von der Dachkante zu entfernen, und von der hinteren Dachkante könnte man fallen, während man sich noch der vorderen zu nähern glaubt. Elisabeth kennt den Weg, dem wir folgen müssen. Aufgezeichnet wäre es eine Kurve oder ein Teil einer Spirale. Hier oben ist es eine gerade Linie quer übers Dach zur anderen Seite. Wir bücken uns unter dem bedrohlich knackenden Firmenzeichen durch. Die Bolzen müssen gewaltigen Verwindungskräften ausgesetzt sein. Ich frage mich, wie oft jemand heraufkommen und sie auf Verschleiß prüfen und auswechseln muss. Dann befestigt sie mir zwei Nylonseile an der Brust und hakt uns zusammen. Wir springen.
    Ich entwickle eine entschiedene Abneigung gegen Stürze. Selbst in den Armen von Elisabeth Soames, deren Schweiß ich noch auf meiner Haut spüre. Auch wenn ich das Kreischen der kleinen Winde höre, die das Seil auslässt. Auch wenn ich weiß, dass wir nicht unten aufschlagen werden und gut gesichert sind – ich mag das ruckende Gefühl in der Magengegend nicht, und es gefällt mir auch nicht, wie hart mir die Luft entgegenschlägt. Die Luft sollte weich und angenehm sein. Eine Brise, die mich morgens weckt, die mir die Haare zaust und den Duft des Sommers zu mir trägt. Ja, sie sollte mir den Tee bringen, aber nicht wie ein wütender Hund an meiner Kleidung zerren und mit scharfen Krallen mein Gesicht zerkratzen. Wir stürzen. Gerade so lange, dass ich Zeit für ein Schwätzchen mit meinem unsichtbaren Mentor habe.
    Na, Arschloch, wie geht's uns heute?
    Bin grad etwas beschäftigt, Ronnie.
    Das ist mir auch schon aufgefallen. Ein ziemlich scharfes Schneckchen.
    Bitte sag das nie wieder.
    Laufen wir jetzt etwa Gefahr, das Warum hinter alledem zu finden, Arschloch? Denn wir auf den Zuschauerrängen bekommen allmählich ernsthaft Lust, ein paar Leuten die Köpfe einzuschlagen.
    Das habe ich schon versucht. Er ist aber zu stark.
    Vielleicht zu stark für dich, Arschloch. Doch womöglich nicht zu stark für mich. Aber darauf kommt es nicht an. Du sollst gar nicht stärker sein. Du sollst klüger sein. Das Gongfu des alten Wu ist bei Klugscheißern auf der ganzen Welt beliebt. Benutze deine Birne.
    Wie denn?
    Das ist doch einfach. Schieß ihm eine Kugel in den Eisenkopf. Das wird ihm garantiert den Nachmittag verderben. Aber ich geh so was ja eher auf praktische Weise an.
    Würde das denn zählen?
    Tja, Arschloch, er wäre dann tot, nicht wahr? Und du würdest noch leben. Das ist doch eindeutig eine Art Sieg, besonders wenn du für diese Variante direkt verantwortlich bist.
    Ich glaube … ich glaube, das ist nicht das, was Meister Wu getan hätte.
    Ah. Nun ja, Arschloch, da hast du wohl recht. Es war ein endloses und erfolgloses Spiel, die Entscheidungen des alten Knackers vorhersagen zu können. Wenn du das kannst, dann bist du besser als ich. Aber darf ich jetzt vorschlagen, dass du die Beine entspannst, die Muskeln bereit machst und in aufrechter Stellung landest? Zieh deinen Kopf ein, damit du deinem schönen Schneckchen nicht die hübsche Nase ramponierst. Ihr seid da.
    Mach's gut, Ronnie.
    Die Winde bremst uns ab, wir landen fast geräuschlos. Elisabeth Soames ist erfreut. Sie hat die Entfernung und das Gewicht sehr genau eingeschätzt. Eine nicht unwichtige Fähigkeit. Neugierig betrachtet sie mich.
    »Hast du gerade mit dir selbst gesprochen?«
    »Ein alter Freund hat mir einen Rat gegeben.«
    Sie lächelt.
    »Ich mach das auch manchmal. Ich rede mit Meister Wu, meiner Mutter und …« Sie zögert. »Also, eigentlich auch mit dir, wenn ich es recht bedenke. Oder beinahe mit dir. Hm.« Sie runzelt die Stirn und fegt das kleine Unbehagen weg wie Spinnweben. »Komm jetzt.« Leichtfüßig und sicher huscht sie davon. So etwas macht sie nicht zum ersten Mal.
    Elisabeth führt mich zu einer eigenartigen Kuppel oder einer Pagode, neben der eine ganz gewöhnliche Tür in einen ebenso gewöhnlichen Betonkasten führt. Eine Dachluke. Sie ist mit einem Vorhängeschloss gesichert. Elisabeth Soames schlägt fest gegen das Scharnier, der Bolzen rutscht heraus, sie hebt die Luke gegen das Schloss hoch. Der Spalt ist gerade groß genug, damit wir beide durchschlüpfen können. Dann lässt sie die Luke wieder sinken und steckt den Stift in die Hosentasche. Ich wische mir das Wasser aus den Augen und sehe mich um.
    Wir befinden uns auf dem Gang eines

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