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Die gelöschte Welt

Die gelöschte Welt

Titel: Die gelöschte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Harkaway
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Rippen beschweren sich. Natürlich. Rippen sind Jammerlappen. Ich sage ihnen das auch. Jetzt höre ich ein Geräusch, ein leises Quietschen von kleinen Gummirädern. Mr Crabtree ist pünktlich – ich sage nicht wie ein Uhrwerk, weil man den Teufel nicht beim Namen nennen soll … Humbert Pistill. Still! Humbert! Pistill! … also sagen wir, er kommt pünktlich wie die Eisenbahn. Wenn Crabtree mich sieht, könnte er Alarm schlagen. Andererseits ist Robert Crabtree ein etwas eigenartiger Mensch. Sein Job hat nicht mit Sicherheitsfragen zu tun, sondern nur mit Papieren. Er könnte denken, dass ich hier sein darf, weil ich nun einmal hier bin. Vielleicht zeigt er mir irgendwelche Wunder. Wer wagt, gewinnt.
    Folge den Papieren. Das war nicht Ronnies Stimme. Es war mein eigener Gedanke.
    Na gut. Ich stehe da und warte. Mr Crabtree taucht langsam auf und bleibt stehen, er sieht mich an.
    »Hrmpf«, macht Mr Crabtree.
    Er blickt nach unten.
    »Sie sind mir im Weg«, sagt er gereizt. Ich hätte es wissen sollen. Ich bin ja fast auch selbst ein Aktenschieber. Ich bin seinen Papieren heute schon einmal im Weg gewesen. Also mache ich seinem Karren eilig Platz. Er rollt vorbei. Ich folge ihm.
    Mr Crabtree schlurft durch den Flur und betritt einen Konferenzraum. Jeder Platz am Tisch ist mit Wasserflasche, Glas und Notizblock ausgerüstet. Die Stifte sind gespitzt und liegen bereit.
    »Zentralausschuss«, sagt Crabtree. Das Fehlen überflüssiger Möbel findet seine Billigung, oder wenigstens bedeutet es, dass keine Gegenstände im Weg sind, die seinen Zorn erregen könnten. Er schlurft weiter.
    Der Stuhl am Kopfende ist größer als die anderen, vor ihm auf dem Tisch stehen zwei Ablagekästchen. Das grüne mit der Aufschrift »Genehmigt« ist leer. Das gelbe ist voll. Für morgen ist wohl eine Sitzung anberaumt.
    Robert Crabtree schmollt. Er geht zum Kopfende, stellt ein neues Kästchen ab und schieb das andere weiter nach innen. Dann bückt er sich ein wenig – was fast vorwurfsvoll wirkt –, um das untere Fach der Aktenkarre zu erreichen, und zieht ein Bündel mit grünen Umschlägen heraus. Er nimmt den älteren Satz gelber Umschläge, öffnet sie und schiebt deren Inhalt in die grünen Umschläge aus seinem Karren. Dann befördert er die grünen Umschläge in das »Genehmigt«-Fach und legt sie wieder auf den Karren. Wie durch Zauberhand sind aus den Vorschlägen und Empfehlungen des Leitungsausschusses (in den gelben Umschlägen) Aktionen und Handlungsanweisungen geworden.
    »Was starren Sie so?«, fragt Mr Crabtree. Erst da wird mir bewusst, dass ich ihn fassungslos beobachte.
    »Ist das …«, will ich fragen. Robert Crabtree fährt auf. Er weiß, was ich denke. Dies ist eine Abkürzung, es muss ein Fehler sein. Aber vor mir steht Robert Crabtree, und dies ist seine Berufung. Das ist alles, was er hat. Sein Leben.
    »Stehender Befehl«, sagt er und sieht mich finster an. Ich habe angedeutet, dass er seinen Job nicht erledigt. Noch schlimmer, ich habe angedeutet, er hätte sich auf unangemessene Weise an den Papieren zu schaffen gemacht. Er hätte herumgefummelt. Ich habe ihn zutiefst beleidigt. Ich habe sein Verhalten als leise Gereiztheit aufgefasst, und vielleicht war es das ja. Vielleicht sind es aber auch nur die chronischen Schmerzen seiner verwelkten Hände. Nun allerdings bewegt er sich energisch und abrupt und beißt die Zähne zusammen. Er hat einen leichten Unterbiss, mit dem er aussieht wie ein Boxer. Unter den runzligen Augenbrauen sind seine Pupillen sehr klein. Ich habe seine Identität in Frage gestellt und seinen guten Namen schlechtgemacht.
    Robert Crabtree stopft die letzte Empfehlung in einen Umschlag mit der Aufschrift »Ausführen« und wirft ihn auf die Karre. Unsere Freundschaft ist beendet. Er schiebt sich an mir vorbei. Ich folge ihm bis zum Sortierraum, auf dessen Schwelle er sich noch einmal umdreht, um mich anzufunkeln. Ich öffne den Mund und will mich entschuldigen, aber eigentlich gibt es nichts mehr zu sagen. Es ist, als hätte ich beiläufig einen Priester beschuldigt, in den Messwein gespuckt zu haben. Er schließt mir die Tür vor der Nase.
    Nun gut, ich bin in den Bauch des Ungeheuers vorgedrungen. Dies ist nicht der Augenblick, irgendetwas zu bereuen.
    Ich wandere in den nächsten Flur weiter und denke über Humbert Pistill nach. Über den Mann, der die Firma leitet, die sich im Grunde wirkungsvoll selbst verwaltet. Er könnte alles tun, was er will, und sie zu jedem beliebigen Zweck

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