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Die gelöschte Welt

Die gelöschte Welt

Titel: Die gelöschte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Harkaway
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Gerüsts. Es gibt eine ganze Menge davon, Metallgitter über isolierten Röhren, Fasermatten, Kabeln und Schläuchen. Für Notfälle gibt es sogar eine Miniaturversion des Rohrs. Dies ist der Bauch des Gebäudes, der an ein Gaswerk erinnert und nicht zu der Vorstellung passt, dass alles elegant, gezielt und auf Knopfdruck geschieht. Dies hier ist verborgen, um den Eindruck von Perfektion zu erhalten, ohne sie jedoch wirklich zu erreichen. Die Laufstege sollen den Zugang erlauben, wenn die Unvollkommenheit so offenkundig wird, dass man sie nicht mehr ignorieren kann. Elisabeth setzt sich mit raschen, federnden Schritten in Bewegung. Wir folgen dem Laufsteg dreißig Meter weit, bis er sich teilt. Dort biegen wir rechts ab und erreichen einen hellen Fleck, wo das Licht vorn unter uns liegenden Raum heraufstrahlt. Hier laufen mehrere Gänge zusammen. Auf einer Karte würde diese Stelle wie ein Knoten erscheinen, eine Kreuzung zahlreicher Straßen, wo müde Klempner auf Fliesenleger und Elektriker treffen, aus Thermoskannen abgestandenen Tee trinken, Sandwichhälften tauschen und sich schmutzige Witze erzählen. Ich sehe mich um. Ja. An der Kreuzung unseres Laufstegs mit dem nächsten gibt es eine glatte Stelle, glänzend gewetzt von vielen Männern, die im Laufe der Jahre ihre Ärsche hier niedergelassen und die Beine um die Pfosten gelegt haben. Auf einem Pfosten hat sogar jemand eine obszöne Zeichnung hinterlassen, ein lächerlich langes männliches Geschlechtsteil, das zwei angedeutete Brüste jagt. Offenbar entstand das Werk mithilfe eines Schraubenziehers, der für die Aufgabe eigentlich zu groß war. Mehrere Kratzer zeigen, wo das Werkzeug des Künstlers den Halt verlor und abrutschte. Dabei brach ein schmaler Streifen der Plastikfarbe ab und zerstörte das Bild. Knapp unter uns befindet sich jetzt ein einzelnes Gitter. Ein Luftschacht.
    Elisabeth legt sich auf den Bauch und schiebt die Finger langsam durch die Löcher des Gitters. Sie atmet ein, zieht und gibt ein leises Geräusch von sich, das wie »uhh-mpf« klingt. Dann hat sie das Gitter gelöst, und jetzt ist technisch gesprochen ein Zugang entstanden. Eine Luke. Elisabeth haucht mir zu: Da runter. Sie sagt mir nicht, ich solle vorsichtig sein. Sie kennt mich.
    Dann stemmt sie sich gegen die Pfosten des Laufganges und seilt mich durch die Luke ab.
     
    Ich stehe in einer Art Wohnzimmer mit Sofas. Die Lampen brennen, neben mir fällt meine letzte Royce-Allen-Jacke herunter. Ich schaue hoch. Elisabeth lächelt leicht und ermutigend, als wäre ich ein Baby bei den ersten Gehversuchen. Sie deutet auf sich selbst. (Bilde ich es mir nur ein, oder zeigt sie genau auf die linke Seite ihres Brustkorbs, wo das Herz ist?) Und dann haucht sie: Ich pass auf dich auf.
    Nun zieht sie sich wieder ein Stück hinauf, bis ich nicht mehr ihr Gesicht, sondern nur noch ihre untere Körperhälfte sehen kann. Sie wackelt mit einem Bein: Mach schon, oder vielleicht auch: Lass knacken, du sexy Bürschchen, was ich sehr nett fände. Jedenfalls gehorche ich und ziehe die Ninja-Haube ab. Es ist angenehm, unsichtbar zu sein, aber es nimmt einem auch das Gehör, und man reagiert nicht mehr so schnell auf Geräusche und Eindrücke. Ich ziehe die Jacke an. Jetzt bin ich kein erschreckender Ninja-Kämpfer mehr, sondern nur noch ein Mann, der im Büro Nachtschicht macht.
    Ich bücke mich und lege die Schneidezähne an den Türgriff. (Vibrationen auf einem Flur bedeuten, dass dort jemand entlangläuft. So schwache Schwingungen kann man am besten auffangen, wenn man die Zähne auf Metall legt. Und das einzige passende Metall in Reichweite ist der Türgriff. Lächerlich, aber wirkungsvoll. Glauben Sie mir nicht? Versuchen Sie es mal.)
    Meine Schneidezähne haben nichts zu berichten. Vorsichtshalber lausche ich noch. Stille. Ich öffne die Tür und trete in den Flur. Über mir höre ich das Rascheln von Stoff auf Metall. Elisabeth folgt mir.
    Es ist nicht ganz dunkel. Jedes Mal nach fünf Türen glimmt ein Licht, das einen Notausgang kennzeichnet. Ich befinde mich ungefähr in der Mitte eines fensterlosen Flurs. Rechts wirkt es ein wenig heller. Vielleicht ist dort noch jemand. Vorsichtig bewege ich mich in diese Richtung. Ich laufe, wie Gonzo auf Streife gelaufen ist – nicht auf Zehenspitzen, sondern indem ich erst den äußeren vorderen Teil des Fußes aufsetze und bis zu den Hacken abrolle. So kann man fast so schnell gehen wie auf die normale Weise, aber es ist wesentlich leiser. Meine

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