Die gelöschte Welt
einsetzen. Aber was will er? Natürlich das Schicksal beeinflussen, aber das ist ein großes Wort. Will er denn Größe? Damit ist es nicht anders.
Ein Murmeln – eine Unterhaltung? Oder ein Gebet? Jedenfalls sind es Menschen. Ich werde langsamer und schleiche mich an. Vor mir taucht eine Tür auf, Licht dringt durch die Fugen heraus. Ich lege das Auge neben das Scharnier. Die Tür ist zwar gut, aber nicht vollkommen dicht eingepasst. So kann ich den Raum dahinter überblicken.
Ninjas knien andächtig auf dem Boden.
Sie sitzen in mehreren Reihen, es sind schätzungsweise einhundert. Sie sind still. Vorn murmelt ein spindeldürrer Mann eine Formel, und die Versammlung wiederholt die Worte. Ninja-Om oder ihre Version des Vaterunser – Vater unser, der du tötest in Lautlosigkeit. An den Wänden hängen Bilder. Fotos und Gemälde. Ninja-Helden. Das neueste kommt mir bekannt vor – ein breitschultriger Mann, der eine Faust wie eine Keule hebt. Sein Bauch ist mit Fett bedeckt, aber unter den Rollen spannen sich mächtige Muskeln. Humbert Pistill.
Der Kerl, der vorn steht, stößt einen Ruf aus, zwei Ninjas aus der ersten Reihe springen auf und greifen ihn an. Er schlägt einen davon blitzschnell nieder, fängt den Angriff des zweiten ab und bricht ihm mit einem knirschenden Geräusch den Arm. Die verletzten Männer verneigen sich und setzen sich wieder. Mir wird übel. Ich spiele mit dem Gedanken, das Gebäude in Brand zu stecken – ein helles, loderndes Feuer, um dieses Haus bis auf die Grundmauern zu reinigen und seine Bewohner zu vernichten, damit mein Elend ein Ende hat. Dann aber erinnere ich mich an Meister Wu und bekomme Schuldgefühle, weil ich solche Ideen habe. Das entspricht mir nicht. Nicht, dass ich diese Gedanken nicht denken könnte (das habe ich ja schon bewiesen), aber sie zu akzeptieren oder nicht, das ist eine Wahlmöglichkeit, die mir offensteht. Und genau dadurch unterscheide ich mich von ihnen.
Pistill ist Smith ist Sifu Humbert. Ninjas sind verrückt. Das alles weiß ich schon. Ich lasse die Ninjas in Ruhe – vielleicht befördern sie sich gegenseitig ins Krankenhaus. Dann ringe ich mit mir, ob die Hoffnung, sie könnten sich bei ihren Übungen katastrophale Leistenbrüche zuziehen oder sich die Hoden quetschen, ebenfalls ein Gedanke ist, der eher zu ihnen passt. Aber ich beschließe, dass dem nicht so ist. So verbringe ich einen Augenblick damit, von Ninja-Leistenbrüchen zu träumen.
Der Flur teilt sich rechtwinklig. Ist Elisabeth noch über mir? Oder eher seitlich? Die Richtungswechsel der Laufstege sind unvorhersehbar. Vielleicht ist sie einen Raum entfernt oder späht an der Kreuzung herab und wartet darauf, dass ich in die eine oder andere Richtung weitergehe.
Links würde ich mich an der Wand des Ninja-Tempels entlangbewegen. Rechts befindet sich der größte Teil des Gebäudes mit den Büros von Jorgmund. Zweifellos gibt es auch dort Geheimnisse, die mich jedoch nicht interessieren. Da geht es um Fragen wie die geheime Kräuter- und Gewürzmischung des Colonels und das einzig echte Rezept für Coca-Cola (in dem Kokain nicht vorkommt), wie man eine Glühbirne herstellt, die ein ganzes Jahrhundert hält, oder wie ein weißes Tuch niemals Flecken bekommt oder ausfranst. Geheimnisse zwar, aber keine dunklen.
Ich wende mich nach links. Links heißt auf Lateinisch sinister, und das bedeutet nicht nur »links«, sondern auch »Unheil bringend«. Der Weg der Kannibalen. In den Hacken spüre ich hin und wieder eine Erschütterung, die aus dem Tempel kommt, der nach ein paar Schritten hinter mir liegt. In den Zehen spüre ich jedoch nichts. Dieser Bereich des Gebäudes ist still.
Still, aber nicht ruhig. Eigentlich sieht hier alles ganz normal aus, aber es fühlt sich seltsam an. Sechzig Schritte hinter mir entspricht das Gebäude genau dem Standort, an dem ein Mann wie Buddy Keene in zehn Jahren ein Büro einrichten wird – langweilig trotz der grellen Farben. Mit einem Schreibtisch, der sich für sexuelle Unternehmungen nach Feierabend eignet, und einer Lampe, die ein brauchbares Licht abgibt, während er sich vorbeugt und der Praktikantin in den Ausschnitt linst. Hier oben ist es kalt. In diesen Mauern gibt es keine Lust. Vielleicht liegt dies an der Ausrichtung des Gebäudes. Tagsüber nimmt eine Seite des Wolkenkratzers mehr Wärme auf als die andere. Auf der nördlichen Halbkugel ist dies die Südseite, deshalb sind Wohnungen mit Südblick teurer. Demnach ist dies hier die graue,
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