Die gelöschte Welt
kalte Nachtseite. Allerdings weiß ich genau, dass es nicht stimmt. Der Flur ist … aufmerksam. Ja, natürlich, sage ich mir – Elisabeth beobachtet mich. Aber ich spüre ihre Aufmerksamkeit nicht. Es kommt mir unfreundlich vor.
Meine Nackenhaare sträuben sich. Ich überprüfe den toten Winkel, den Bereich gleich hinter mir, in dem ein Angreifer in einer hervorragenden Position wäre und fast ohne Gegenwehr zuschlagen könnte. Ich trete zur Seite und taste mit erhobener Hand. Am hinteren Ende des Flurs wabern die Schatten, kleine, dunkle Perlen kriechen übereinander. Starrt man lange genug ins Dunkle, sieht man irgendwann alles Mögliche. Die alten menschlichen Augen – wenn wir Tintenfische wären, würde das vermutlich nicht passieren. Tintenfische haben bessere Augen als wir und keinen blinden Fleck. Ich frage mich, ob sie deshalb auch keinen Bedarf an Nachbildern haben und darum gegenüber dem Fernsehen immun sind. Tausende von Tintenfischfamilien sitzen Abends zu Hause, beobachten einen kleinen hellen Punkt, der im Zickzack über eine Glasscheibe läuft und fragen sich, was das Theater eigentlich soll.
Über mir knirscht die Decke. Elisabeth? Oder jemand anders. Wenn sie Elisabeth geschnappt haben, dann ist es in völliger Lautlosigkeit geschehen. Im Ninja-Stil. In einem wirklich guten Ninja-Stil. Haben sie jemanden, der so etwas kann? Der im verstohlenen Angriff so gut ist wie Humbert Pistill im Handgemenge? Vielleicht steht der Geist schon hinter mir. Vielleicht fühle ich mich deshalb so nackt. Er ist jetzt unmittelbar hinter mir.
Ich drehe mich blitzschnell um, fahre mit den Fingern wie mit einer Sichel durch die Luft, weiche seitlich aus, trete und ziehe mich bis an die Wand zurück. Nichts geschieht, wenn man davon absieht, dass ich mich wie ein Idiot fühle. Die Schatten am Ende des Flurs wabern ungerührt weiter.
Also gut. Dann muss ich dorthin.
Wahrscheinlich liegt es an der Nase. Die Nase kann allerhand kluge Dinge tun; das Problem ist nur, dass wir nicht an diese Art von Unterstützung gewöhnt sind und sie oft missverstehen. Assumption Soames erzählte mir, sie habe riechen können, dass mit Dr. Evander John etwas nicht stimmte, als er aus dem Cricklewood Fen nach Hause kam. Sie dachte an eine stinkende Sumpfpflanze – oder der Hund habe sich in irgendetwas gewälzt. Nach ein paar Tagen verflog es wieder. Als der gute Doktor Kuru bekam und starb, wurde ihr klar, dass sie an seinem Schweiß riechen konnte, wovon er sich in der letzten Zeit ernährt hatte. Deshalb passe ich genau auf. Was rieche ich?
Ein Hauch von Parfüm. Etwas Cologne. Zigarren, schon länger her. Menschliche Gerüche – Haut, Schweiß. Alles schon älter. Dahinter Industriereiniger. Politur. Bleichmittel. Sehr schwach auch Blut – vielleicht von der Sanitätsstation der Ninjas hinten am Tempel. Gummi, Eisen, frische Farbe. Noch etwas, alt und vertraut, das nicht hierher gehört.
Vor mir erscheint eine Tür. Mehr als eine Tür. Ein Portal mit zwei Flügeln, eingebettet in schimmernden Marmor.
Es könnte der Zugang zur Vorstandsetage sein. Andererseits liegt das Sitzungszimmer des Zentralkomitees hinter mir. Dies hier muss also etwas anderes sein. Ich gehe hinein.
Nein, lieber doch nicht. Ich will einen Schritt machen, aber ich kann nicht. In meinem Kopf schrillen Alarmsirenen und Hörner. Der rechte Fuß löst sich halb vom Boden, dann hält er inne und fällt zurück. Mein Körper verharrt an Ort und Stelle und zieht sich mit schmerzhafter Vorsicht sogar etwas zurück. Meine Augen machen sich selbstständig und betrachten den Teppich. Er ist, wie zu erwarten, unschön und robust. Büroteppich. Dennoch wirkt er sehr sauber. Überall sonst gibt es Spuren der Aktenkarre: hundert Tage Robert Crabtree, hin und her. Aber hier nicht. Mein Körper starrt den Gang an. Dann legt er sich flach auf den Boden (ohne mich um Erlaubnis zu bitten) und blickt geradeaus nach vorn … nein, man kann nicht sagen, dass dort nichts wäre. Irgendetwas ist dort. Ich rieche Trockenblumen, den Teppich und diesen fremden Geruch, den ich nicht einordnen kann. Ja, das ist es. Hier ist es viel zu kühl und urban. Der Geruch gehört aber eher zu Bergen und Wäldern. Mein Körper erlaubt mir, wieder die Kontrolle zu übernehmen, hat aber offenbar böse Vorahnungen. Pass bloß auf.
Vor mir entdecke ich einen feinen silbernen Faden, dünn wie Spinnweben. Ich berühre ihn nicht, sondern schnüffle nur daran. Ja. Dieser Geruch von Mandeln, Knetmasse
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