Die gelöschte Welt
ungefähr an Hellen Fusts Rede zum Thema »Lasst uns mal eine Schreckenstat begehen« orientiert. Ich will mich kurzfassen, aber als ich beginne, wird mir klar, dass ich eigentlich eine ganze Menge zu sagen habe und dass irgendwie alles wichtig ist. Deshalb wächst die Geschichte auch noch, während ich erzähle, und Elisabeth besorgt mir irgendetwas Scharfes und Feuchtes von der Bar, damit mir nicht der Mund austrocknet.
Ich erzähle ihnen, wer ich bin und woher ich komme, ich erzähle ihnen von Marcus Maximus Lubitsch und dem fremden Schlachtfeld, von Gonzos Spiel und seinen Sorgen und wie er sich einen neuen Freund erschuf. Ich erzähle ihnen, wie ich angeschossen wurde und sehe Leah nicht dabei an, als ich berichte, wie hart dieser lange Weg gewesen ist. Jetzt wisst ihr, was und wer ich bin. Das ist alles.
Dann gehe ich in der Zeit zurück und erzähle ihnen Dinge, die sie schon wissen – über die Große Löschung und die Reifikation, über Zaher Bey, der einer kleinen Gruppe verzweifelter Menschen Schutz und Essen bot. Ich berichte, dass wir ohne ihn und seine Leute gestorben, vielleicht auch in einem Meer aus Zeug ertrunken wären. Wir haben eine Schuld zu begleichen.
Da ich nicht länger an mich halten kann, offenbare ich ihnen auch Humbert Pistills letztes, grässliches Geheimnis, den Wurm im Apfel der Welt. Das geht so:
Es war einmal ein Junge namens Bobby Shank. Bobby war kurzsichtig und nicht sehr klug, hatte aber gute Absichten und ein leeres Bankkonto. Also dachte er, es gebe Schlimmeres, als sich für eine Runde bei den Streitkräften zu verpflichten. Er war ein mieser Schütze, hatte aber ein breites Kreuz und wirkte immer recht bereitwillig. Außerdem war er gutmütig und vielleicht ein bisschen zu dumm, um Angst zu haben. Er war in Addeh Katir mit Erdarbeiten beschäftigt, er schuftete, marschierte und schleppte Sachen hin und her, bis Riley Tench ihn dauerhaft der Sanitätseinheit zuordnete. Schließlich befand er sich eher zufällig in einer gewissen Straße der Kampfzone, als seine eigenen Leute den Ort beschossen. Ein großes Fenster barst, und die Scherben flogen umher wie Regenbogeninsekten mit Skalpellflügeln.
Einer dieser Splitter traf Bobby Shanks Kopf. Es war kein großes Stück, aber lang und sehr scharf, und weil es geradlinig einschlug, verhielt es sich so ähnlich wie ein Speer und bohrte sich tief in den Kopf. Es durchschlug die Schädelknochen und drang bis ins Gehirn vor, wo es in mehrere Stücke zerbrach, die verschiedene chirurgische Eingriffe vornahmen. Das erste Stück wurde nach oben abgelenkt und trennte Bobby Shanks höhere geistige Funktionen teilweise vom Rest des Gehirns. Bobby konnte also nichts mehr sehen, oder besser, er konnte nicht mehr in Echtzeit sehen. Er konnte allerdings etwas anschauen und sich erinnern, es gesehen zu haben, und dann davon erzählen. Er war jedoch beispielsweise nicht mehr in der Lage, Fußball zu spielen. Auf ganz ähnliche Weise konnte er auch nicht mehr riechen, war aber in der Lage, sich an Gerüche zu erinnern, die er eine Minute zuvor wahrgenommen hatte. Zuerst roch er vor allem Blut und zog den zutreffenden Schluss, dass es sich um sein eigenes handelte. Er wollte schreien, doch das erwies sich als unmöglich, weil der zweite Splitter vom Schädel nach links oben abgelenkt worden war und das Sprachzentrum, das sich dort befindet, in einen nutzlosen Brei verwandelt hatte. Bobbys Mund brachte Laute hervor, lange Abfolgen von Geräuschen, die an Worte erinnerten. Die dritte Scherbe war die grausamste oder die freundlichste, je nachdem, wie freudlos die Gnade sein darf. Sie bohrte sich in den Gehirnstamm und ließ Bobby in eine tiefe Bewusstlosigkeit fallen. Dann wanderte sie weiter nach innen und drohte Bobby zu töten. Bobby war ein Träger im Sanitätsdienst. Tobemory Trent hätte ihn wahrscheinlich an Ort und Stelle für tot erklären sollen, aber das tat er nicht, weil Sanitäter nicht zurückgelassen werden. Niemals.
Ein paar Tage später transportierten sie Bobby Shank nach Hause, wo er im Krankenhaus dahindämmerte. Sie versuchten, die dritte Scherbe mit Ultraschall zu behandeln, weil er sonst sowieso gestorben wäre, und schafften es schließlich, sie auf entsprechende Weise zu zerbrechen. Leider gingen auch die anderen Teile entzwei, die sie eigentlich hatten in Ruhe lassen wollen. Das war ein Segen und ein Fluch zugleich, denn die Scherben drangen in den Gehirnbereich vor, der die Langzeiterinnerungen speichert, und
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