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Die gelöschte Welt

Die gelöschte Welt

Titel: Die gelöschte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Harkaway
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löschten einen großen Teil davon. Bobby Shank vergaß, dass er einen Namen hatte. Sein Leben umfasste von nun an nur noch die jeweils letzten fünf Minuten. In gewisser Weise war das schon ein Erfolg, denn jetzt war er nie etwas anderes gewesen als das, was er im Augenblick gerade war. Ein freundlicher Traum mit weißen Wänden und schönen Gerüchen, der langsam zerfiel und verblasste, bis Bobby bloß noch ein lebender Kurzschluss war, nur noch ein Gehirn, das registrierte, was direkt vor ihm lag und sich selbst überhaupt nicht mehr wahrnahm. Er lächelte öfter und fluchte seltener, was einen schönen Nebeneffekt ergab.
    Dann ging das Licht aus, und die halbe Stadt wurde von einer sehr großen Löschungsbombe verschluckt. Auch die Maschinen blieben abgeschaltet. Bobby Shank bekam Hunger. Er kroch auf die Straße hinaus. Wahrscheinlich brauchte er mindestens eine Stunde, um überhaupt so weit zu kommen, vielleicht sogar länger, wenn er unterwegs das Bewusstsein verlor oder sich von den hübschen Mustern auf dem Teppich im ersten Stock ablenken ließ. Ich habe keine Ahnung, wohin er wollte oder ob er überhaupt verstand, dass er sich bewegte.
    Bobby Shank, der nicht mehr wusste, dass er Bobby Shank war, kroch die Hornchurch Street hinunter und suchte Pfannkuchen. Er konnte sie riechen, und auch wenn er sich nicht an sie erinnerte, wusste er doch irgendwie, dass er genau das haben wollte. Wie durch ein Wunder fand er sie sogar. Er kroch ins Wohnzimmer einer Dame namens Edith MacIntyre. Nach einer Weile verstummten ihre Schreie angesichts dieses behaarten Wracks eines Menschenlebens, und ihr wurde klar, dass er ein sanftes, leidendes Geschöpf war. So fütterte sie ihn langsam und wiegte ihn, denn alle ihre Angehörigen wurden vermisst und waren höchstwahrscheinlich entfernt.
    Mit der Zeit verwandelte sich Edith MacIntyres Haus in ein Wohnheim und einen Treffpunkt. Reisende schauten vorbei und blieben ein paar Tage, redeten an Ediths altem, großem Frühstückstisch miteinander und arbeiteten für ihren Unterhalt oder bezahlten mit Essen. Es war ein behaglicher, sicherer Ort, und was von Bobby Shank noch vorhanden war, fühlte sich dort sehr wohl. Er blieb – nicht, dass er überhaupt in der Verfassung gewesen wäre, einfach wegzulaufen. So saß er auf der Veranda im Sessel und wurde ungeheuer fett.
    In diesem Winter suchten Stürme Edith MacIntyres Haus heim. Viele Leute verwandelten sich in etwas Eigenartiges, und um viele Hauser strichen Schimären und sprechende Hunde herum. Unzureichend fantasiertes Essen stank in den Kanälen, und faustgroße Spinnen huschten über Straßen voller Gold, Schlamm und Eis. Doch in Edith MacIntyres Haus geschah überhaupt nichts. Wenn es stürmte, tröpfelte das Zeug durchs Dach bis ins Wohnzimmer. Wenn es aber auf den Boden fiel, war es nur noch Wasser oder Staub. Rings um Bobby Shank wurde das Zeug zu dem, was er gerade betrachtete. Denn Bobby Shank konnte sich nichts mehr vorstellen. Er hatte keine Wünsche und keine Träume mehr, sondern hatte nur noch das, was direkt vor ihm lag. Und das war herzlich wenig.
    Eines Morgens schaute ein Mann mit einem höchst eigenartigen Namen vorbei und ruhte sich bei Edith MacIntyre aus. Als er Bobby Shank sah, hatte er das Gefühl, das Antlitz Gottes erblickt zu haben. Er hörte die Musik, sagte er. Edith MacIntyre konnte den Mann mit seinen breiten Schultern und dem zu lauten Lachen nicht leiden. Früher hatte sie einen Ehemann gehabt, der diesem Kerl hier ähnlich gewesen war, und auch der war ein Schweinehund gewesen.
    Eine Woche später kam Humbert Pistill zurück und stahl Bobby Shank. Edith MacIntyre sah ihn nie wieder. Sie machte sich Sorgen, aber nach einer Weile war sie viel zu sehr damit beschäftigt, am Leben zu bleiben, um weiter darüber nachzudenken.
    Die erste Station am Jorgmund-Rohr, in einem kleinen Ort namens Aldony gelegen, bestand aus Humbert Pistill, Bobby Shank und einer alten Abwasserpumpe. Es dauerte nicht lange, bis sie bereit waren zu expandieren. Bobby Shank vermochte so viel Zeug in Anti -Zeug zu verwandeln (Humbert Pistill hatte noch keinen griffigen Namen gefunden), wie man nur in seine Reichweite bringen konnte. Es musste nicht länger als eine Sekunde dort bleiben. Sobald die zerfetzten Reste von Bobbys Geist es berührten, veränderte es sich. Ein paar Monate lang war alles in bester Ordnung. Pistill fand die Uhrwerksgilde wieder – oder die etwa fünfzig, die noch lebten, fanden ihn. Damit war der

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