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Die gelöschte Welt

Die gelöschte Welt

Titel: Die gelöschte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Harkaway
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Vielmehr wünsche ich ihr einen guten Morgen, und sie lächelt schmal.
    »Ich will zur Universität gehen«, platze ich heraus, denn ich habe herausgefunden, dass man bei der Evangelistin am besten so schnell wie möglich die ganze schreckliche Wahrheit auf den Tisch legt, damit ihr weniger Zeit für ihren beißenden Spott bleibt. »Elisabeth sagte, ich sollte mit Ihnen reden. Bei Meister Wu war das.« Sie soll keinesfalls, besonders nicht in diesem Augenblick, auf die Idee kommen, ich spielte mit ihrer geliebten, wenngleich vernachlässigten Tochter herum, besonders nicht in körperlicher Hinsicht, wenn man von dem physischen Kontakt absieht, der nötig ist, um auf den Boden geworfen und von einer Beinschere festgehalten zu werden. Angesichts der körperlichen Nähe, die in dieser Position entsteht und die zuweilen unerwartet starke sexuelle Untertöne bekommt, frage ich mich, wie ich dies bisher überlebt habe, ohne zu erröten oder andere, weitaus eindeutigere autonome körperliche Reaktionen zu zeigen. Ich schiebe den ganzen Gedankengang aber sofort wieder beiseite, um nicht versehentlich auch damit noch herauszuplatzen.
    Die Evangelistin antwortet nicht sofort. Vielmehr lehnt sie sich auf dem Stuhl zurück und formt mit den Händen ein Spitzdach. Sie schürzt die schmalen Lippen, berührt sie mit den Zeigefingern und schließt die Augen. Schließlich atmet sie tief ein und seufzt, während sie zweifellos ein stummes Gebet zu ihrem rachsüchtigen, willkürlichen, tyrannischen, engstirnigen und humorlosen Gott schickt. Endlich starrt sie mich aus halb geschlossenen Augen an, greift in die Schreibtischschublade und holt eine Packung Zigaretten heraus (»krebserregend, gotteslästerlich, getränkt mit dem Blut von Sklaven und verbreitet in der Kultur von Sünde und Sinnlichkeit, die diese moderne Welt durchdringt«) und bedient einhändig ein klobiges Zippo-Feuerzeug. Dann klemmt sie sich die Kippe in den Mundwinkel und saugt den Rauch scharf ein.
    »Also gut«, sagt Assumption Soames schließlich, »da kann ich was tun.« Sie atmet noch mehr Krebs erzeugende Sünde ein und stößt sie wie ein Drache durch die Nasenlöcher wieder aus. »Mach den Mund zu, junger Mann. Du siehst ja aus wie ein Briefkasten.«
    Kann gut sein. Bis zu diesem Augenblick habe ich angenommen, Assumption Soames lege für Gott jeden Abend ein eigenes Gedeck auf und singe Hymnen im Bad (das sie bekleidet nimmt, um bei einem etwaigen Beobachter ja keine erotischen Gelüste zu wecken, so unwahrscheinlich dies im Grundsatz auch erscheinen mag) und ernähre sich nur von Kies und Hafermehl, um ja nicht die Sinne anzufachen. In der letzten Zeit, seit mir bekannt ist, dass die schlanke, elegante junge Frau, mit der ich tödliche und anspruchsvolle Methoden des Faustkampfes geübt habe, und die – ebenso wie ich – offenbar kein Zuhause hat, in das sie sich zurückziehen kann, ihre Tochter ist, habe ich mir stille, an eine Krypta erinnernde Gemächer aus grauem Stein und Sackleinen vorgestellt. In meiner Version des Warren-Hauses werden die Mahlzeiten mit den Schlägen großer Glocken angekündigt, die Fußböden aber bestehen dort aus nacktem Kiefernholz, das Elisabeth jeden Morgen mit Sandpapier abschleifen muss, damit nicht der sinnliche Glanz stark abgenutzten Holzes entsteht. Ich habe Assumption Soames ihre öffentliche Selbstdarstellung gedankenlos abgekauft. Jetzt wird mir klar, wie naiv dies war.
    Ich schließe den Mund, weiß aber immer noch nicht, wie ich mit dieser krassen Diskrepanz umgehen soll. Mir kommt der Gedanke, dies könnte eine perverse Prüfung der Evangelistin sein, mit der sie herausfinden will, ob ich es wert bin, in meiner bildungsmäßigen Notlage die Hilfe und den Beistand ihrer Kirche zu erhalten. Wie ich weiß, ist die Evangelistin auf eine höchst unaufrichtige Weise äußerst direkt, ein raffinierter Totschläger wie diese kleinen Schachcomputer, die einfach alle nur denkbaren Züge der Reihe nach durchgehen. Wenn sie ihre Opfer manipuliert, dann bewegt sich die Evangelistin auf einem riesigen Spielfeld, zieht aus jedem Rückschlag ihren Vorteil und bleibt im Kleinen siegreich, weil sie bei jedem Zug das Große bedenkt. Ich traue diesem neuen Gesicht nicht über den Weg. Assumption Soames sieht mich noch einen Augenblick finster an, dann seufzt sie abermals und streift die Asche in einem Aschenbecher ab, der wie ein Cherubim geformt ist. Sie windet sich, als geschehe endlich etwas, auf das sie ungeduldig gewartet hat.

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