Die gelöschte Welt
Da dämmert mir, dass sie sich langst auf diesen Augenblick vorbereitet hat.
»Willst du eine Geschichte hören?«
Vorsichtig nicke ich. Der Stuhl, auf dem ich sitze, ist genau der, auf dem ich meinen Glauben an Gott verloren habe. Er stinkt nach einsamer Erkenntnis. Aber jetzt entdecke ich offenbar ein freundliches Gesicht, wo ich es am wenigsten erwartet hätte. Der Stuhl und ich schätzen unsere Beziehung neu ein. Das ist weitaus sicherer, als meine Beziehung zur Evangelistin neu einzuschätzen, die anscheinend völlig von der Rolle ist und möglicherweise gleich Schaum vor den Lippen haben oder obszöne Couplets singen wird. Wieder windet sie sich und rutscht auf ihrem Kissen hin und her (es sieht wie ein luxuriöses Kissen aus, das keineswegs, wie ich erwartet hätte, mit Steinen oder Rasierklingen gefüllt ist). Als sie mit der Position ihres Hinterteils zufrieden ist, beginnt Assumption Soames zu erzählen. Offenbar handelt es sich um eine Parabel.
»Ein Reisender verpasst eines Nachts auf einer Straße eine Abzweigung und verirrt sich im Wald. Er hat einen Hund, der sich aber nur um Hundeangelegenheiten kümmert und nicht entscheiden kann, wo es nach Hause geht. Vielleicht sitzt er auch im Auto, und der Hund kann ihm sowieso nicht helfen. Als er sich endgültig und unwiderruflich im Wald verirrt hat, erreicht er eine Weggabelung. Sein treuer Hund ist bei ihm, deshalb hat er keine Angst, aber er will nun wirklich endlich nach Hause.« Mit der Zigarette beschreibt sie einen kleinen Kreis. »Deshalb freut er sich, als er an der Gabelung ein Wirtshaus entdeckt, in dem er nach dem Weg fragen kann. Vielleicht ist es auch ein Hotel mit einer Bar. Wirtshäuser gibt es nämlich nicht mehr, verstehst du? Es ist ein unangenehmes Lokal mit Sägemehl auf dem Boden. Eines der Lokale, die du auf keinen Fall betreten solltest. Ist das klar?«
Ich nicke.
»In der Bar sitzen drei unheimliche Vetteln, die so alt sind, dass er zwischen den Runzeln ihre Augen nicht mehr erkennen kann. Hm?«
Wieder nicke ich. Es ist das erste Gespräch mit der Evangelistin, in dem ich das Gefühl habe, meine Zustimmung und sogar Mitwirkung seien ein notwendiger Teil unserer Begegnung. Auch diese Neuerung macht mich äußerst nervös. Assumption Soames dagegen löst die Spannung in ihren Muskeln, als hätte jemand den Strom abgestellt. Sie wedelt mit den Armen, wippt mit den Füßen und setzt mit der Zigarette kleine Punkte in die Luft, um die wichtigsten Teile ihrer Erzählung zu unterstreichen.
»Der Reisende wendet sich also an diese Frauen und fragt sie so höflich, wie es ihm nur möglich ist, wie er am besten nach Hause käme. Die Älteste – die in der Mitte – greift sich an die Stirn, teilt die Schleier, sieht ihn finster an und erklärt ihm, dass sie keine Fragen mehr beantwortet !«Assumption Soames klatscht die Hand auf den Schreibtisch, und in diesem Augenblick klingt ihre Stimme heiser, hinterwäldlerisch und erschreckend. »Sie deutet auf ihre Schwestern, die neben ihr sitzen, und sagt: Eine dieser Damen sagt immer die Wahrheit, und die andere lügt immer. Aber sie beantworten dir nur eine einzige Frage.
Wenn er sich von diesen Damen den Weg erklären lassen will, dann muss er eine ziemlich raffinierte Frage stellen. Aber glücklicherweise ist unser Reisender – Evander John Soames aus Cricklewood Cove – ein Lehrer. Er weiß also genau, welche Frage er stellen muss. Also gut, sagt Dr. Soames und wendet sich an die Vettel, die dem Gin am nächsten sitzt. Dann frage ich euch dies: Welche der beiden Straßen würde mir die jeweils andere von euch als den richtigen Heimweg empfehlen? Denn Dr. Soames kennt sich mit der Logik aus und weiß, dass die ehrliche Schwester ihm wahrheitsgemäß sagen wird, welches die falsche Straße ist, weil das die Straße ist, die ihre Schwester nennen würde, und wenn er mit der Lügnerin spricht, dann würde sie ihm sagen, die richtige Straße (die auch die Schwester empfehlen würde) sei die falsche. Welche Antwort er auch bekommt, er wird wissen, dass er die jeweils andere Straße einschlagen muss. Die Vettel sagt ihm, er solle die südliche Straße nehmen, woraufhin er nach Norden geht.«
Assumption Soames zieht an der Kippe und betrachtet mich über den Schreibtisch hinweg mit gerunzelter Stirn. Es erschiene unbefriedigend, wäre die Geschichte damit schon zu Ende, aber diese Pause fühlt sich an, als sei hier die Mitwirkung des Publikums gefragt. Also riskiere ich etwas und stelle eine
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