Die gelöschte Welt
Frage.
»Kommt er denn nach Hause?«
»Nein.«
»Was?«
»Nein. Er kommt nicht zu seiner Frau und seinem Kind nach Hause. Auch der Hund schafft es nicht. Dr. Soames nimmt die nördliche Straße und gerät in einen Hinterhalt der vielen Söhne und Töchter der drei Vetteln. Sie alle sind Anthropophagen.«
»Ähm.«
»Kannibalen. Sie fressen Menschen, traurigerweise auch Hunde.« Sie beugt sich vor. »Sie machen einen Soames-Auflauf und leben glücklich und zufrieden, bis sie von einem Ausbruch von Kuru oder vielleicht auch von den Marines ausgelöscht werden. Und die Moral von der Geschicht'?«
»Komme nicht vom Weg ab.«
»Nein. Die Moral der Geschichte, sofern sie überhaupt eine hat, ist die, dass Kannibalen Logik lernen können, und wenn du schon den richtigen Weg verlassen musst, dann solltest du deine fünf Sinne beisammen haben und keinesfalls der ersten beängstigenden Alten glauben, die dir in einem Lokal etwas erzählt. ›Eine meiner Schwestern lügt, und die andere sagt die Wahrheit!‹ Was für ein Mist. Um Himmels willen, warum fragt er nicht den Wirt? Oder kehrt einfach auf seiner eigenen Spur zurück? Der Mann ist ein Idiot.« Sie seufzt. Ich stelle abermals die Neigung meines Kinns nach und bringe meine Lippen immerhin nahe genug zusammen, um nicht für ein Teeschränkchen gehalten zu werden. Der Evangelistin dürfte inzwischen halbwegs klar sein, dass ich absolut keinen Schimmer habe, warum sie mir dies erzählt oder was in diesem Raum vor sich geht, falls nicht einer von uns völlig plemplem ist oder der Teufel ihre Seele gestohlen und dafür die einer Puffmutter aus New Orleans zurückgelassen hat. Sie malt mit den Händen einen Kreis in die Luft. Ich kenne die Bedeutung dieser Geste aus ihren sporadischen Einmischungen in meine Ausbildung: »Denk nach, Junge. Der Herr hat dir die graue Masse zwischen den Ohren nicht nur als Ballast mitgegeben.« Ich antworte, wie ich eigentlich immer antworte – mit einer Art hoffnungsvollem Schluckauf. Es entsteht eine resignierte Pause.
»Dein Freund Gonzo«, fährt Assumption Soames fort, »verlässt den Weg nicht. Niemals. Er tut alles im Schutz des Weges, und der Weg führt ihn, wohin er gehen will, weil er pfiffig ist. Du sitzt jetzt in meinem Büro und fragst dich, warum du nicht längst gemerkt hast, dass ich eben doch keine bibelverrückte Frau bin und warum ich vierzehn Jahre lang so verdammt gemein zu dir war. Die Antwort ist, dass ich eine sehr gute Lügnerin bin und nur so den Freiraum bekommen konnte, euch das zu lehren, was ihr wissen müsst. Die Leute wollen nicht, dass Kinder lernen, was sie wissen müssen. Sie wollen den Kindern beibringen, was diese wissen sollten. Als Lehrer kämpfst du in einer ewigen Schlacht gegen leicht verblödete Erwachsene, die davon überzeugt sind, die Welt werde besser, wenn man nur glaubt, sie sei besser. Du willst Sexualkunde lehren? Prima, aber erst, wenn sie schon alt genug sind, um es selbst zu tun. Du willst über Politik reden? Gern, aber nicht über die heutige Politik. Religion? Nur, solange du nicht wirklich darüber nachdenkst. Denn sonst dringt eine aufgebrachte Meute in dein Haus ein und verbrennt dich als Hexe. Zum Teufel damit! In dieser Stadt bin ich die böse alte Dame, die allen sagt, was sie lesen dürfen – oder auch nicht, wenn es nicht anständig ist. Deshalb kann ich einstellen, wen immer ich haben will, um meine eisernen Regeln zu unterlaufen. Sie können Evolutionslehre unterrichten, die freie Rede oder die kulturelle Voreingenommenheit der Geschichtsschreibung behandeln, wie sie wollen. Ich mache das, weil du tatsächlich den Weg verlassen wirst, so sehr du auch darauf bleiben willst. Und wenn das passiert, solltest du verdammt gut vorbereitet sein.« Sie sackt in sich zusammen. »Die Menschen sind Idioten«, murmelt sie. »Ich kümmere mich darum, dass du nach Jarndice kommst. Ich nehme doch an, dorthin willst du?«
Ja, so ist es. Sie macht sich eine Notiz, und dann sitzen wir erschöpft da, während sie sich fragt, ob sie zu mir durchgedrungen ist. Und ich frage mich, ob ich ihr vertrauen kann. Und während wir beide uns auf eine schüchterne, verrückte Weise fragen, ob wir vielleicht an diesem Tag einen Freund gefunden haben oder ob wir, wenn wir uns die Hand geben, lachen, uns betroffen abwenden und die Fensterläden wieder verrammeln werden. Da ich aber nie gelernt habe aufzuhören, besonders nicht, wenn ich vorne liege, frage ich, ob es eine wahre Geschichte war. Assumption
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