Die gelöschte Welt
kümmere mich überhaupt nicht mehr um die größere. Als es dann so weit ist, mich nach einem Job umzusehen oder meine Ausbildung fortzusetzen, trifft es mich völlig unvorbereitet. Der Rest der Welt beschäftigt sich mit Schulabschluss und Universität. Ich dagegen bin das dumme Schlusslicht. Ich kenne nicht die richtigen Wörter, ich habe offenbar sämtliche Fristen versäumt, und in den Formularen sind für einen Fall wie den meinen keine Felder vorgesehen. Elisabeth wechselt zu einem Institut namens Alembic, das ein ganzes Stück weit entfernt liegt. Natürlich hat sie das alles schon im letzten Jahr geregelt. Sie ist es auch, die mir Beine macht und mich wieder auf den richtigen Kurs bringt, indem sie mit dem Fuß aufstampft, bis ich aufpasse.
»Nein!«, sagt sie.
»Ich will aber …«
»Nein, wirst du nicht!«
»Aber …«
»Nein!«
Sie starrt mich an. Sie ist achtzehn und nicht bleich und auch kein Albino, ebenso wenig eine dieser skandinavischen Superblondinen. Aber ihre Haut wirkt beinahe so durchsichtig wie bei einem Wesen, das normalerweise im Dunkel des Meeres lebt. Fast, als wäre sie in Schwarz-Weiß gezeichnet, und diese Färbung ist so seltsam, dass man kaum noch ihr Gesicht bemerkt, das eigentlich recht ausdrucksvoll und vielleicht ein wenig zu breit erscheint. Es hat nicht die Ebenmäßigkeit der Menschen, die man schön oder im Mittelmaß hübsch nennt, sondern passt eher zu jenen, die als hinreißend, vielleicht auch als attraktiv, auf jeden Fall aber als einzigartig bezeichnet werden. Bis zu diesem Augenblick haben wir uns noch nie über irgendetwas unterhalten, das nicht zum Leben im Stummen Drachen gehörte, und jetzt sind wir angesichts dieser abrupten Veränderung beide verwirrt und ein wenig beunruhigt. Sie runzelt die Stirn.
»Also, du musst jedenfalls mit meiner Mutter reden.«
»Ich …«
Sie hebt einen Finger wie einen Dolch.
»Lass mich nicht wieder aufstampfen!«
An diesem Punkt muss ich gestehen, dass ich keine Ahnung habe, wer ihre Mutter ist. Elisabeth glotzt, als wäre mir ein zweiter Kopf gewachsen.
»Ich bin Elisabeth Soames, die Tochter von Assumption Soames.«
Jetzt weiß ich, wem sie ähnlich sieht, auch wenn es viel zu bizarr ist, um weiter darüber nachzudenken, denn Elisabeth ist in meinem Alter und keine Irre. Ihre Mutter ist also meine Schulleiterin, die Evangelistin. Ich gurgele vor Schreck.
Sie starrt mich grimmig an, bis ich einwillige, mit Gonzos Eltern zu reden und sie um Rat zu fragen. Und wenn das nichts nützt, dann werde ich zur Evangelistin gehen. Daraufhin küsst sie mich einmal auf die rechte Wange und eilt davon, um au revoir zu Meister Wu zu sagen. Es gibt mir einen eigenartigen Stich, als sie die Tür schließt. Jedenfalls mache ich mich auf den Weg zum Haus der Eubitschs, um über meine Embarkation zu reden.
Die Schüler der Soames School bekommen nicht einfach bloß ihren Abschluss. Die Schulgründer waren als weltliche, vernünftige Männer der Ansicht, die jungen Menschen, die ihnen zwecks Wissenserwerb und Vorbereitung auf die höhere Bildung anvertraut wurden, machten nicht etwa Fortschritte, um erwachsen zu werden oder ihre Studien abzuschließen, sondern begäben sich nach dem Schulabschluss lediglich an einen anderen Ort, um ihre Suche nach der Wahrheit fortzusetzen. Aus diesem Grund begehen die Schüler, die Jahr für Jahr das Institut verlassen, das Embarking und werden nicht etwa als Embarkees bezeichnet, was ein wenig nach Zwischendeck klingt, sondern als Embarkanden, was sich angenehm akademisch und unvergleichlich gebildeter anhört. Sie tun dies auch, weil die Evangelistin alles Althergebrachte automatisch für gut hält, als könne eine bestimmte Praxis allein durch häufige Wiederholung zum heiligen Ritual werden, was letztlich doch bedeuten würde, dass gewisse, von ihr energisch als Sünden verurteilte Tätigkeiten schon längst als zulässig oder gar lobenswert betrachtet werden müssten.
Ich fühle mich nicht wie ein Embarkand, sondern eher wie ein Schiffbrüchiger. Rings um mich bereiten sich junge Männer und Frauen auf vornehme Universitäten vor und arbeiten halbtags oder schnorren, um sie sich leisten zu können. Sie kaufen neue Kleidung, packen ihre Koffer und reden in einer seltsamen Fachsprache über Dormitorium und Audimax, Kalfaktoren, Tutorien, Nullwochen, Magisterprüfungen, Orientierungssemester und Plenarsitzungen. Wenn ich sie danach frage, verstummen sie und schauen verlegen drein, was wohl heißen
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