Die gelöschte Welt
wedelt mit einer Hand. »Es stimmt schon – der menschliche Körper kann sehr gefährlich sein.« Als seine Bemerkung dem Anwärter ein triumphierendes Lächeln entlockt, fügt er hinzu: »Dabei entgeht mir aber keineswegs, dass es die arschkriecherische Antwort eines Arschkriechers war.«
Ronnie wartet. Als offensichtlich ist, dass er uns besiegt hat, beantwortet er seine eigene Frage.
»Das Automobil«, sagt Ronnie. »Eine Keule von mehreren tausend Kilo Gewicht, die sich nicht selten mit mehr als fünfzig Stundenkilometern bewegt. Gefährlich in unberufenen Händen, was ja auf die meisten Fahrer zutrifft, und verdammt tödlich, wenn man es als Waffe einzusetzen weiß.«
Zu unserem Erstaunen lernen wir als Erstes »Schnelle taktische Manöver in Theorie und Praxis« und deren Anwendung im Bürgerkrieg und in städtischen Umgebungen. Es macht erstaunlich viel Spaß. Wir lernen, wie man ein anderes Auto so rammen kann, dass es sich überschlägt. Wir lernen, wie man es bei einem Autoduell vermeidet, den eigenen Wagen zu ramponieren. Wir lernen, wie man ein Auto mit Stöcken, Ketten, Benzin, Salz, Pistolen und einem anderen Auto außer Gefecht setzt. Wir werden herumgestoßen und gelegentlich in unserer Trainingsmontur in Brand gesteckt – und haben trotz der Verletzungen unseren Spaß. Autokämpfe sind wie Sparring: Es geht um Geschwindigkeit, Entfernung und Timing. Außerdem muss man wissen, was man treffen muss, um den Gegner auszuschalten. Ich kann das ziemlich schlecht, komme aber trotzdem auf meine Kosten, und es gibt ja viele andere Leute, die noch schlechter sind, darunter Richard P. Purvis und eine Frau namens Kitty, die behauptet, seit dem Alter von neun Jahren fahren zu können. Wir demolieren eine ganze Flotte von Mittelklassewagen und Limousinen und der Abwechslung halber auch zwei Sechzehnsitzer. Es dauert drei Tage.
»So«, sagt Ronnie Cheung, als der letzte Türgriff in den Staub fällt und Riley Tench siegreich aus einem zerstörten Nissan klettert, »Nahkampf.« Denn im Grunde geht es vor allem darum, dass wir uns daran gewöhnen sollen, herumgeworfen und verprügelt zu werden, ohne uns zu sehr daran zu stören. Also geht es von Angesicht zu Angesicht weiter, was persönlicher und auch irgendwie nackter ist, weil uns keine metergroße Knautschzone mehr vom Gegner trennt. Dies ist der Teil, bei dem die Frage aufkommt, ob sich die Zahnärztin des Projekts auf ihr Handwerk versteht. Das ist der Fall, aber ich habe das Glück, ihre Dienste nur ein einziges Mal in Anspruch nehmen zu müssen, bis ich lerne, meinen Kopf aus der Schusslinie zu bringen, ehe ich irgendetwas anderes versuche.
So geht das Leben eine Weile weiter. Ich trainiere, lerne und lebe in einem kleinen grünen Raum ganz unten in George Copsens und Professor Dereks Ameisenhaufen. Ronnie Cheung wohnt eine Etage über mir in einem Raum, der Stuhl für Stuhl exakt dem meinen gleicht. Allerdings verfügt er über zwei nebeneinander liegende Räume, zwischen denen er die Trennwand herausgeschlagen hat. Er lädt uns nicht in sein Zimmer ein, aber ab und zu müssen wir uns bei ihm an der Tür melden und anschließend irgendwo durchs Gelände laufen oder einen Kurs über Angriffe unter feindlichem Feuer belegen. Hin und wieder bekomme ich 48 Stunden Urlaub (meist einfach nur, weil ich an der Reihe bin, gelegentlich aber auch, weil ich bei einer von Ronnie Cheungs bizarren Übungen zum Siegerteam gehöre; beispielsweise sperren sie uns mit einer Auswahl von Lebensmitteln in ein Zimmer und fordern uns auf, eine Waffe zu konstruieren, wobei es darauf ankommt, a) dass eine Waffe nicht unbedingt etwas ist, mit dem man jemanden schlägt, sondern vielleicht auch etwas, auf dem er ausrutscht oder das ihm in die Augen fliegt und wehtut, b) dass Waffen überall sind, c) dass Waffen manchmal doch nicht überall sind oder dass eine improvisierte Waffe mitunter nicht der Mühe wert ist und man den Gegner in diesem Fall einfach so fest wie möglich auf den Kopf hauen soll). Wenn ich kann, besuche ich Gonzos Eltern in Cricklewood Cove. Manchmal klopfe ich auch an die Tür meines Elternhauses oder betrete es mit dem versteckten Schlüssel. Gelegentlich finde ich eine Nachricht oder etwas Essbares im Kühlschrank, hin und wieder auch ein paar alte Flugtickets im Mülleimer im Flur. Meistens aber suche ich Ma Lubitschs Küche und die draußen summenden Bienen auf. Ich rede mit ihr und dem alten Lubitsch über das Leben und verschiedene weniger wichtige Dinge
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