Die gelöschte Welt
dass ich das menschliche Sozialverhalten mithilfe der Mathematik zu entschlüsseln vermochte. Ich bin fähig, mit Menschen auf einer anscheinend beiläufigen, nichtwissenschaftlichen Ebene Umgang zu pflegen und wie ein ganz normaler Mann ab und zu eine Frau im Bett zu haben, weil ich die Verhaltensforschung und die Statistiken der Ethnographie gründlich studiert habe und zum Zwecke der Vorhersage und Quantifizierung ständig eine Reihe von Berechnungen im Kopf durchführe, die mir akzeptable menschliche Reaktionen im Bereich des Normalen zugänglich machen und Werturteile so gut zu fälschen vermögen, dass die Fehlermarge im Toleranzbereich liegt. Auf einer ganz einfachen Ebene erkenne ich beispielsweise an der Zahl der Nickbewegungen und des Spiels der Muskulatur im Hals und im Gesicht, ob Sie tatsächlich zuhören oder ob Sie vielmehr der Ansicht sind, dieser Teil der Einführung interessiere Sie nicht und Sie könnten unterdessen über ganz andere Dinge nachdenken. Ich weiß, dass ich in Bezug auf diejenigen unter Ihnen, die momentan über die sexuellen Abenteuer der letzten Nacht oder das für heute Abend angesetzte Footballspiel nachdenken, eine ganze Reihe von Möglichkeiten habe. Unter anderem könnte ich a) hoffen, dass Sie doch noch Einsicht zeigen und zuhören werden, b) das Thema individuell oder mit der Gruppe direkt ansprechen und Ihnen erklären, dass ich momentan Ihre einzige Chance bin, eine anständige Bewertung und damit am Ende doch noch einen Job zu bekommen und sogar physisch zu überleben, falls wir einen Krieg führen müssen, c) die Sache mehr nebenbei als natürliche Folge meiner einführenden Bemerkungen erwähnen und davon ausgehen, dass Sie die Andeutung verstehen werden, oder d) Sie anbrüllen, was meines Wissens die vom Militär bevorzugte Lösung ist. Sie werden bemerken, dass ich diese Optionen hierarchisch gegliedert habe. Ich muss gestehen, dass der Grund dafür in der Mathematik gerade jener Lösung liegt, die in ästhetischer Hinsicht besonders vielversprechend erschien. Ich erwähne dies nicht etwa, weil Sie es unbedingt wissen müssten, sondern nur, weil dies das einzige Beispiel ist, an dem Sie womöglich zu erkennen vermögen, wie weit mein IQ den Ihren übersteigt. Fragen?«
Es gibt keine Fragen. Professor Derek hat eine sehr laute Stimme, und sein Auftreten (wahrscheinlich ausgewählt aus einer ganzen Reihe verschiedener Arten, sich uns vorzustellen) lädt nicht unbedingt zu humorvollen Reaktionen ein und lässt keinesfalls vermuten, dass er Scherze liebt. Derek ist alterslos und ruhig, und offenbar gehört er nicht zu der Spezies, der wir anderen angehören. Besser wäre, wenn er plump oder ungepflegt wäre, aber er ist – zweifellos dank einer Reihe von Formeln in den Bereichen Leben/Qualität/Arbeit – robust, einigermaßen in Form und hat ordentliches, gewöhnliches Haar. Er sieht aus wie ein Rhodes-Schüler, der auf dem Titel von GQ oder Forbes erscheinen könnte. Derek wirft mir einen Blick zu, der mir verrät, dass er es vorerst mit Option a) versuchen wird. Ich mache mir in großen, runden Buchstaben, die auch auf dem Kopf stehend gelesen werden können, eilig Notizen, höre aber bald wieder auf, da ich tatsächlich aufmerksam zuzuhören beginne.
»Wussten Sie eigentlich«, sagt Professor Derek, »dass wir in einem schmalen Korridor des Weltraums leben und, wäre die Umlaufbahn der Erde nur ein wenig anders beschaffen, überhaupt nicht existieren würden?«
Ich weiß es, aber es war ohnehin eine rhetorische Frage, oder er will sicherstellen, dass alle anderen es auch wissen, denn er fährt fort und erklärt es. Die Erde, so sagt er, befinde sich an einem bevorzugten Ort, wie ihn sich ein Grundstücksmakler höchstens in seinen feuchten Träumen vorstellen könnte. Der Sonne nahe genug, um Energie von ihr zu beziehen, mit deren Hilfe die biochemischen Reaktionen wie etwa die Fotosynthese ablaufen. Aber doch nicht so nahe, dass sie Feuer fängt und explodiert. Andererseits ist sie nicht so weit entfernt, dass die Atmosphäre gefriert und auf den Boden fällt, was physikalisch durchaus möglich und eine höchst unangenehme Vorstellung ist, nicht zuletzt, weil dies jeden im Raum an die mittlere Kammer des Projekts Albumen und den Mann namens Tyler erinnert, zu dessen Aufgaben es gehört, die Überreste achtloser Besucher von den Wänden zu kratzen, bevor sie vollends auftauen und zu matschig werden.
Die Welt, in der wir leben, balanciert zwischen der Sonne und dem
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