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Die gelöschte Welt

Die gelöschte Welt

Titel: Die gelöschte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Harkaway
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und wandere in der Hoffnung, zufällig auf Elisabeth zu treffen, an der Bucht entlang. Manchmal stehe ich auf der Klippe, wo wir Meister Wus Asche verstreut haben, und trinke aus einer Thermoskanne Tee. Einmal glaube ich, sie zu mir heraufsteigen zu sehen, aber sie kommt nie an.
    Gonzo ist nur selten da, er ist vollauf mit seinem gewöhnlichen Leben beschäftigt, und das löst ein Gefühl der Wärme in mir aus, als hätte ich damit eine Leistung vollbracht. Indem ich vom Pfad abgewichen bin, habe ich es Gonzo erlaubt, darauf zu bleiben. Es kommt mir seltsam vor, dass ich jetzt ein Teil der unterdrückerischen Staatsmacht bin, aber ich gelange zu der Schlussfolgerung, dass ich mich im Grunde um die Verteidigung des Rahmens bemühe, in dem Toleranz möglich ist, und dass ich für die Gewalt als letztes – und nicht als erstes – Mittel trainiere. Wenn ich diese Idee mit zusammengekniffenen Augen betrachte, bin ich fast geneigt, daran zu glauben. Die meiste Zeit denke ich nicht weiter darüber nach.
     
    Auf dem Übungsplatz trainiert Ronnie Cheung mit Sergeant Hordle. Ich habe Sifu Cheung seit drei Monaten beobachtet, war dabei aber vorsichtig genug, seine Aufmerksamkeit nicht zu erregen. Unter Richard P. Purvis habe ich zusammen mit George Copsens anderen Lakaien gelernt. Äußerlich habe ich den unauffälligen, aber recht guten Schüler gespielt, um nicht als schlechter Schüler ein Übermaß an Aufmerksamkeit vonseiten Ronnie Cheungs zu bekommen. Ich habe in ungefähr dem gleichen Tempo wie Riley Tench Fortschritte gemacht. Er ist ein schmaler, spilleriger Kandidat, dem das Wort »Karriere« und ein Platz in der Militärgeschichte auf die Stirn geschrieben steht. Riley Tench kämpft höflich, als fände er es unfein, einen Gegner zu überrumpeln, aber er schlägt hart zu und gibt erst nach, wenn er unbedingt muss. Er ist ein Offiziersanwärter wie aus dem Bilderbuch, ein fantasieloser und unermüdlicher Streber. Genau deshalb habe ich ihn mir als Vorbild ausgesucht. Solange ich auf dem gleichen Niveau bin wie Riley Tench, bekomme ich vermutlich keine allzu schwierigen Aufträge und muss mich mit Herausforderungen herumschlagen, die ich bewältigen kann. Riley Tench ist kein Gonzo.
    In der ganzen Zeit, die ich hier bin, habe ich noch nie gesehen, dass ein Gegner Ronnie Cheung auch nur in Verlegenheit gebracht hätte. Obwohl ihn die Jungs und Mädchen der verschiedenen Eliteeinheiten immer wieder mit Schlägen eindecken, hat das offenbar nicht die geringste Wirkung – seine Beine, sein tonnenförmiger Oberkörper oder auch sein hässlicher Kugelkopf absorbieren die Treffer einfach. Ronnie Cheung ist auf die gleiche Weise ein knallharter Stilist, wie André der Riese ein großer Kerl war. Seine Angriffe kommen direkt, kraftvoll und sehr, sehr schnell. Er berührt den Kopf und die Brust des Gegners nur leicht, weil es ein Übungskampf ist und nicht sinnvoll wäre, einen Schüler zu verletzen oder ihm die Knochen zu brechen, selbst wenn der Gegner, wie in diesem Fall, ein ausgebildeter Soldat ist.
    Sergeant Hordle lässt eine letzte Kombination los, und Ronnie Cheung fegt ihn sanft von den Beinen und versenkt ihn im Staub. »Sanft« bedeutet in diesem Zusammenhang, dass nichts bricht oder knackt. Sergeant Hordle prallt aber immer noch so fest auf den Boden, dass ich die Erschütterung in der Brust spüren kann. Das ist schon beeindruckend genug, weil Ronnie Cheung bestenfalls von gewöhnlicher Größe ist, während Sergeant Hordle als ein sehr großer Mann bezeichnet werden muss. Außerdem aber ist Hordle Sergeant bei den Fallschirmjägern, was bedeutet, dass er eine Spur härter ist als eine Eisenstange. Hordle springt wieder auf und grinst.
    »Das war Mist«, sagt Ronnie Cheung. »Das war totaler Mist. Sind Sie unter der Uniform ein Balletttänzer mit zu großen Eiern? Sind Sie ein verdammtes Chormädchen mit rotem Käppi? Wenn ich Sie ausziehe, Sergeant Hordle – und kichern Sie nicht, weil ich das kann, wie Sie genau wissen … Wenn ich Sie also mit meinen beiden Händen bis auf die Unterwäsche ausziehen würde, was ich aber nicht tun werde, weil ich nicht weiß, wo sie sich herumgetrieben haben, auch wenn ich da so meine Vermutungen habe – würde ich dann feststellen, dass Sie eine Strumpfhose und ein Ballettröckchen tragen? Falls Sie jetzt denken, Sergeant, ich beleidigte Ihre Sexualität, dann will ich Sie daran erinnern, dass vor einer halben Stunde Billy Radigand von der C-Kompanie hier war und mir fast

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