Die Genussformel: Kulinarische Physik (German Edition)
einerseits die zähen Kollagenfasern zerstört werden. Dadurch wird das Fleisch mürbe. Andererseits würden sich die Kollagenfasern erst bei Temperaturen von über 80 °C zusammenziehen und den köstlichen Saft aus dem Fleisch herauspressen. Damit das Fleisch nicht trocken wird, sollten die 80 °C nicht überschritten werden. Trotzdem ist die Keule nach ein paar Stunden durch, denn damit das Eiweiß des Fleisches im Inneren der Keule fest wird, reichen schon Temperaturen von rund 75 °C.
Es geht aber noch langsamer und noch schonender. Sie nehmen etwas Fleisch, das kaum Kollagen enthält, also hochwertigstes Fleisch, und würzen es entsprechend. Dann wird dieses Fleisch in einer Kunststofffolie eingeschweißt. Dies erledigt gerne der Fleischhauer Ihres Vertrauens, wenn Sie ihn freundlich fragen. Wichtig ist, dass man eine dicke Folie verwendet. Reißt sie später während der Zubereitung, so ist das Ergebnis beschämend schlecht. Die Folie mit dem Fleisch kommt dann in ein Wasserbad. Das sollte eine Temperatur von 60 °C plus/minus 2 °C haben. Das Fleisch lassen Sie nun für drei bis acht Stunden im Wasser liegen. Die Schwierigkeit bei dieser Zubereitung ist, dass man zu Hause nur sehr schwer genau diese Temperatur einhalten kann. Es wäre auch zu mühsam, mit einem Thermometer daneben zu stehen und kaltes Wasser nachzuschütten, wenn es zu warm wird. Wird es zu kalt, stellt dies weniger ein Problem dar: Man muss dann das Fleisch nur länger im Wasserbad lassen. Was passiert dabei? Eigentlich dürfte gar nichts passieren. Bei 60 °C denaturieren noch keine Proteine von Säugetieren, und das Kollagen wandelt sich auch noch nicht um. Also, was soll das Ganze?
Damit kommen wir zu einem wesentlichen Bereich der Naturwissenschaft: der Statistik. Wasser verdampft bei 100 °C. Das stimmt – und auch nicht. Wasser kann sich auch vorher schon in Wasserdampf verwandeln. Die Aussage „Wasser verdampft bei 100 °C“ sollte eigentlich exakter lauten „Wasser muss bei 100 °C verdampfen“. Genauso verhält es sich bei den Denaturierungstemperaturen. Die Proteine von Schweine-und Hühnerfleisch denaturieren ab 65 °C, die Proteine von Rind-, Gänse-oder Entenfleisch denaturieren bei Temperaturen ab 75 °C. Aber Vorsicht: Bei 65 °C beziehungsweise bei 75 °C müssen sie denaturieren, aber das können sie zumindest in einem beschränkten Ausmaß auch schon bei geringeren Temperaturen. Es ist wie bei einem Lotto-Sechser: Alles muss passen, Sie müssen die richtigen Zahlen tippen.
Bei einzelnen Molekülen ist es etwas komplizierter. Sie können um ihre Achse rotieren oder sich auch in einer Flüssigkeit bewegen. Erst wenn die Temperatur um diese einzelnen Moleküle ausreichend hoch ist, verändern diese ihre Form. Das heißt, viele andere Moleküle stoßen an dieses einzelne Molekül an, und dadurch verändert dieses seine Form. Bei 65 °C haben die Moleküle in der Nähe der Proteine eine ausreichend große Temperatur, folglich eine genügend hohe Geschwindigkeit, damit die Proteine ihre Struktur verändern. Aber wenn wir von einer Temperatur sprechen, so meinen Physikerinnen und Physiker die durchschnittliche Bewegungsenergie der Moleküle eines Körpers.
Das Geheimnis liegt im Wörtchen „durchschnittlich“. Das bedeutet: Es gibt Moleküle rund um die Proteine – das kann zum Beispiel Wasser sein –, die sich langsamer bewegen als die Durchschnittsgeschwindigkeit, und es gibt Moleküle, die sich auch schneller bewegen werden. Das Ganze ist natürlich nicht statisch. In manchen Bereichen treten mehr Moleküle auf, die schneller sind als in anderen Bereichen. Da die Moleküle aneinanderstoßen, können manche Moleküle abgebremst werden, während andere schneller werden. Diese Prozesse führen dazu, dass selbst wenn man die Temperatur von Fleisch penibel genau auf 60 °C hält, trotzdem hin und wieder ein Protein denaturieren wird, was eigentlich erst bei 65 °C sein sollte. Natürlich könnte man die Temperatur auch auf zum Beispiel 55 °C halten, dann würde dieser Prozess aber noch viel länger dauern.
Kommen wir wieder auf das konkrete Rezept zurück: Fleisch würzen, in eine feste Folie ohne Luft einschweißen und bei 60 °C für mindestens drei Stunden ziehen lassen. Dabei werden nach dem Gesetz der Statistik die Proteine gerinnen, während kaum Kollagen in Gelatine umgewandelt wird. Das bedeutet, dass das Fleisch fest bleibt. Damit das Fleisch nicht zäh ist, sollten Sie nur Fleisch verwenden, das wenig
Weitere Kostenlose Bücher