Die gepluenderte Republik
von »Anwendungsfehlern«, aber was soll’s? Der Kasse bringt es 10 000 Euro im Jahr, plus der Ersparnis für die gar nicht benötigten teuren Medikamente. 155
Die Pointe: Bei der Vielzahl der dubiosen Fälle ist schon der Gedanke an wirksame Kontrollen völlig abwegig. »Normalerweise«, heißt es aus Kreisen des Bundesversicherungsamtes, »fällt der Pfusch doch gar nicht auf.« 156
Nun könnte man das Ganze durchaus als Notwehr werten: Den Krankenkassen würden im Jahre 2010 über 7,4 Milliarden Euro fehlen, warnte der Schätzerkreis für die gesetzliche Krankenversicherung bereits im Oktober 2009. 157
Und ziemlich außen vor bleiben in der Regel die Plünderchampions, also die Pharmakonzerne.
Und die arbeiten mit Haken und Ösen. So berichtete der
Spiegel
schon 2003 über »erfundene Krankheiten«: »Pharmazeutische Unternehmen sponsern die Erfindung ganzer Krankheitsbilder und schaffen ihren Produkten auf die Weise neue Märkte … Krankheitserfinder verdienen ihr Geld an gesunden Menschen, denen sie einreden, sie wären krank. Ob soziale Phobie, Internet-Sucht, erhöhter Cholesterinspiegel, larvierte Depression, Übergewicht, Menopause, Prä-Hypertonie, Weichteilrheumatismus,Reizdarmsyndrom oder erektile Dysfunktion – medizinische Fachgesellschaften, Patientenverbände und Pharma-Firmen machen in nicht enden wollenden Medienkampagnen die Öffentlichkeit auf Störungen aufmerksam, die angeblich gravierend sind und viel zu selten behandelt werden.« Mit im Boot sitzen übrigens deutsche Professoren. Als »Mietmäuler« (Branchenjargon) kassierten sie pro Vortrag oder Auftritt auf Pressekonferenzen bis zu 4000 Euro ein »und machen offen Werbung für die entsprechenden Krankheiten und die dazu passenden Produkte« 158 .
Mächtige Verbündete hat die Pharmaindustrie seit jeher in der Politik. So wurde die 1992 im Gesundheitsstrukturgesetz geplante Einführung einer Positivliste für Arzneimittel trotz mehrerer Anläufe nicht umgesetzt. Und als dies 2003 wieder einmal drohte, warf sich ausgerechnet Hessens Ministerpräsident Koch für die Pharmaindustrie in die Bresche: »Ich will, dass es dieser Industrie gutgeht.« 159 Prompt wurde das entsprechende rotgrüne Gesetz im Mai 2003 vom Bundesrat abgelehnt. Und dies, obwohl die meisten EU-Staaten, unter anderem Belgien, Dänemark, Finnland, Frankreich, Griechenland, Italien, Luxemburg, die Niederlande, Österreich, Portugal und Schweden längst eine Positivliste haben. Die Positivliste und geänderte Zulassungsverfahren sollten das gigantische Angebot von 50 000 erstattungsfähigen Präparaten auf rund 20 000 reduzieren. Kein Wunder also, dass jährlich 4000 Tonnen Arzneien im Wert von etwa vier Milliarden Euro auf dem Müll landen. Zum Vergleich: In Schweden gibt es nur 3500 Medikamente, in Frankreich nur 770, ohne dass die Menschen dort kränker wären als bei uns. 160
Aber selbst wenn die Positivliste käme: Es ist ein Hobby der Pharmakonzerne, ständig ihre Arzneien durch neue und scheinbar stark verbesserte, in Wahrheit aber nur minimal veränderte, aber um ein Vielfaches teurere Produkte zu ersetzen.
Aber das ist noch nicht alles: Die Patienten müssen für einrezeptpflichtiges Medikament zuzahlen, zudem müssen die Patienten die rezeptfreien Arzneien selbst bezahlen. Alles zusammengenommen, werden der Staat und seine Bürger jährlich um mehrstellige Milliardenbeträge erleichtert.
Bezeichnenderweise attackiert inzwischen sogar Bayerns Gesundheitsminister Markus Söder die Pharmaindustrie: »Da werden großartige Gewinne gemacht. Und ich denke, wenn es darum geht, Einsparungen vorzunehmen, dann sicherlich dort – aber nicht zu Lasten der Patienten.« 161 Hier schimmert ein wenig die – wenngleich minimale – Macht des Wählers durch: Der CSU droht nach den Wahlkatastrophen in Bayern – 2008 bei der Landtagswahl 43,4 Prozent (minus 17,3 gegenüber der vorigen Wahl) und 2009 bei der Bundestagswahl 41,9 (minus 8 Prozent) – der endgültige Verlust des Status der letzten Volkspartei in den alten Ländern. Deshalb kämpfte Horst Seehofer für die Pendlerpauschale, und deshalb greift Söder jetzt die Heilige Kuh Pharmaindustrie an. Denn entgegen allem Anschein sind die CSU-Macher nicht blöd: Sie wissen sehr wohl, dass den Normalo und erst recht den simpel gestrickten Bürger die Plünderung des für ihn »abstrakten« Staatshaushalts mit praktisch unvorstellbaren Summen wie 480 Milliarden Euro für den Bankenschirm weniger aufregen als das, was er
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