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Die geprügelte Generation

Die geprügelte Generation

Titel: Die geprügelte Generation Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Müller-Münch
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ihn laut Plan an der Wand bestimmten Stuhl setzen wollte, sondern einfach woanders Platz nahm, zischte ihm seine Nachbarin ins Ohr: »Hör, was die Erzieherinsagt, rück auf.« Doch als das nichts brachte, meinte die Erzieherin: »Dann bin ich aber ganz traurig, wenn du da sitzen bleibst.« Alles wartete nun in dem mucksmäuschenstillen Raum, verharrte, bis Sven sich erhob, das Gesicht schamgerötet.
    Hier wurde kräftig mit Lob und Tadel, Drohungen und Bloßstellungen operiert. Mit diesem repressiven Handwerkszeug klappte alles wie am Schnürchen. Und weil man dies hier so erfolgreich durchzusetzen verstand, galt die Süd-Ost-Allee noch bis vor kurzem als sozialistische Vorzeigeeinrichtung, wurde mit Preisen und Prämien überhäuft. Auf Schulungen wurden die Erzieherinnen darauf eingestimmt, »tiefer ins Programm einzudringen«. Bis ins kleinste Detail war alles von oben geregelt, durch die Bibel der DDR-Kindergärten, Margot Honeckers blaues Erziehungsbuch, durch das die Kinderseelen auf Einheitlichkeit zurechtgebogen werden sollten.
    Vor dem Waschen – so war da minutiös vorgeschrieben – hatten die Kleinen sich die Ärmel hochzustreifen. Die Hände mussten beidseitig gesäubert, die Seife gut abgespült und die Wassertropfen abgeschüttelt werden. Sie durften auf gar keinen Fall barfuß den Boden berühren. Sangen sie ein Lied, so war vorgegeben, wie es zu klingen hatte: »Hör ich die Soldaten singen«, marschmäßig energisch. »Auf die Schule freu ich mich«, freudig lustig. »Soldaten der Volksarmee« bewegt.
    Einige der Vorschriften klingen im Nachhinein wie Hohn. So die Vorgabe, den Kindern nahezubringen, wie gut alle Menschen in der DDR leben und »dass die Soldaten der Nationalen Volksarmee stark, mutig, klug, geschickt und immer einsatzbereit« sind. Dass sie bei ihren Übungen »ständig darum ringen, beim Schießen genau zu treffen …« Panzer und Soldatenpuppen, Relikte aus dieser Zeit, standen auch 1990 noch immer in den Regalen der beiden Kindergärten, die ich damals aufsuchte.
    Das Programm des Ministeriums für Volksbildung war zwar inzwischen von oben in aller Eile auf ein Skelett zusammengestrichen worden. Doch da es allen Erzieherinnen über die Jahrein Fleisch und Blut übergegangen war, hatte sich in der Praxis noch nicht viel geändert. Früher, da flatterten ihnen alle 14 Tage neue Durchführungsbestimmungen auf den Tisch. Das Ergebnis zeigte sich dann in »Gruppe 4« der Süd-Ost-Allee. Die sollte kurz nach 11 Uhr morgens in den Garten gehen. »Da nehmen wir doch mal die Bälle mit«, hatte eine der Erzieherinnen entschieden, nicht ohne vorher alle zum Pullern und zum Waschen zu schicken. Draußen hüpfte Michael mit einem Kumpel als erstes in den Sandkasten und lieh sich von Kindern einer anderen Gruppe Schäufelchen. Sofort griff seine Erzieherin ein, nahm die Schippen weg und schimpfte: »Wir hatten uns doch vorgenommen, mit den Bällen zu spielen.« Ohne überhaupt nur wahrzunehmen, dass nicht »wir« dies entschieden hatten, sondern sie ganz allein.
    Später dann wurde Sandras Geburtstag gefeiert. Die Kleine thronte inmitten der Gruppe und bekam von jedem Kind einen Wunsch vorgetragen. Christoph wünschte ihr zum Beispiel, statt wie von mir erwartet bergeweise Süßigkeiten oder Spielzeug, »dass sie immer schön Zähne putzt«. Franziska schloss sich an, »dass sie immer schön mittags schläft« und Kathleen, »dass sie immer schön der Mutti hilft, den Tisch zu decken«. In dem Stil ging es weiter, achtzehnmal. Und mich gruselte es immer mehr. Was wurde hier alles unterdrückt, welche Wut musste jedes dieser Kinder über soviel Lügerei in sich spüren? Was war diese Verlogenheit für eine ungünstige Vorbereitung aufs Leben? Wichtig war hier jedem Kind, nur ja nicht aufzufallen, sich anzupassen. Um jeden Preis. Wem dies nicht gelang, der fand seinen Namen an der Wand wieder. Dort hing für jeden sichtbar ein Zettel mit der Überschrift: »Auffälligkeiten«. Gefolgt von den Namen der Kinder, um die sich entweder der Sprechtherapeut oder der Psychologe zu kümmern hatte. Es waren all jene, »die nicht in der Lage sind, sich der Gruppennorm anzupassen«, erklärte eine Erzieherin. Als auffällig galt zum Beispiel Roman, der immer dann verstummte, wenn er vor versammelter Kinderschar etwas gefragtwurde oder den Tischreim sprechen sollte. Das galt als »Auffälligkeit« und da half es auch nichts, dass Roman aufs schönste und intensivste und fantasievollste spielte, wenn man

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