Die geprügelte Generation
umgestoßen wurde, ein kleines Mädchen sich den Pullover vollschlabberte, fiel mir ein Stein vom Herzen. Denn eigentlich hatte ich derart kindgerechtes Verhalten nicht mehr erwartet. Nach einem Tag als Journalistin und Beobachterin für eine Buch- und Zeitungsreportage 25 in der »Kinderkombination Süd-Ost-Allee« im Ostberliner Stadtteil Johannisthal war ich – Anfang 1990, nur wenige Monate nach dem Fall der Mauer – auf Disziplin und unbedingten Gehorsam eingestellt. Hatte erfahren, dass hier nicht aus der Reihe getanzt wurde. Und stieß nun ausgerechnet im benachbarten Betriebskindergarten der Vopo, der Volkspolizei, auf derlei kindliche Ausrutscher.
Eigentlich wurde hier alles kollektiv erledigt. Hier wurde kollektiv gepinkelt und kollektiv gespielt. Und wehe dem, der auszuscheren versuchte! Wobei mir die Leiterinnen beider Einrichtungen versicherten, dass der Tag für die Kinder früher, in der DDR, noch viel strenger durchstrukturiert war. Dass ihnen ein »Lebensregime« (der Begriff fiel tatsächlich) vorschrieb, wann sie auf der Stelle die Bauklötzchen fallen zu lassen hatten und wann genau und auch wie lange sie ausgelassen sein durften. Doch auch so reichte es mir schon: Noch immer wurden vor dem Essen, vor dem Mittagsschlaf, nach der Obst-Zwischenmahlzeit, nach dem Spiel im Freien, wann auch immer, die Hände gewaschen – bis zu achtmal zählte ich in der »Gruppe 4« der Kinderkombination. »Gepullert«, wie es die Erzieherinnen nannten, wurde nur gemeinsam. Das waren die Kleinen gewöhnt. Schon mit anderthalb wurden sie in der Krippe regelmäßig aufs Töpfchen gesetzt. Allezusammen. Wer dennoch zwischendurch mal musste, hatte um Erlaubnis zu fragen.
Erziehung auf revolutionärem Einheitskurs
Stand »Spielen« auf der Tagesordnung, dann hatten die Kinder gefälligst auch zu spielen. Das war schon immer so. Das hatte das von Margot Honecker seit Anfang der 60er Jahre geleitete Ministerium für Volksbildung in seinem »Programm für die Bildungs- und Erziehungsarbeit im Kindergarten« auf die Minute vordiktiert. Prinzipien von Sauberkeit, Disziplin, Ordnung und Pflichten, von denen die Erzieherinnen auch nach November 1989 sich nicht so schnell verabschieden konnten, waren offenbar all die Jahre lang weitaus wichtiger als so eine Nebensächlichkeit wie das kindliche Wohlbefinden. Kindergärten, wie die beiden, die ich bald nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Planwirtschaft besuchte, waren maßgeblich an der Erziehung der Kinder in der ehemaligen DDR beteiligt. Allein 1965 wurden rund 19 Prozent aller Kinder bis zum vollendeten dritten Lebensjahr in Kinderkrippen und rund 53 Prozent aller Kinder vom vollendeten dritten Lebensjahr bis zum Schuleintritt in Kindergärten betreut. Eine Zahl, die später noch anstieg.
Sabine Andresen, Erziehungswissenschaftlerin an der Bielefelder Universität, hat 2006 ein Buch veröffentlicht über »Sozialistische Kindheitskonzepte – Politische Einflüsse auf die Erziehung«. Wer darin liest, erfährt bald, wie schnell sich die anfängliche Begeisterung in der sowjetisch besetzten Zone und später in der DDR, und der Enthusiasmus, etwas umwerfend Neues mit Kindern zu machen, an der Realität aber auch an ideologischen Erziehungsvorstellungen abrieb.
Zunächst beschreibt Sabine Andresen das Leben von Kindern gleich nach dem Zweiten Weltkrieg im Westen wie im Osten Deutschlands: »Apathie und Desorientierung waren dominante psychosoziale Merkmale junger Menschen. Für Kinder und Jugendlichehatte eine elementare zeitliche Strukturierung des Tages im Krieg, aber nicht minder in der unmittelbaren Nachkriegszeit, an Gültigkeit verloren und auch auf ihr vertrautes Raumwissen konnten beispielsweise die Berliner Kinder nach den Zerstörungen nicht mehr vertrauen. Die soziale Not in den Besatzungszonen traf 1945 die Kinder und Jugendlichen besonders hart und führte dazu, dass Kinder- und Jugendarbeit unterhalb der politischen Rhetorik vielfach als jugendpflegerische und fürsorgeorientierte Tätigkeit verstanden wurde. Zu den akuten alltäglichen Mängeln gehörten die Wohnraumnot, die auch durch die Situation der Flüchtlinge verschärft wurde, die schlechte Ernährungssituation und die zunächst chaotisch organisierte Lebensmittelversorgung. Das Leben wurde erschwert durch die Situation in den meist unvollständigen Familien und durch die aufgrund der Zerstörung fehlenden Räume für ein physisch und psychisch sicheres Aufwachsen. Schließlich war erst ab dem
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