Die geprügelte Generation
inneren Tischkante so weit abstehend, dass man bequem die flache Hand zwischen beide hindurch legen kann. Der Kopf sei ganz leicht abwärts geneigt, weder nach rechts noch nach links von der Vertikalen abweichend. Beide Ellbogen ruhen mit ihren vorderen zwei Dritteln auf dem Tisch.«
So lauteten die Richtlinien für die Schule, im Jahre 1883 von einem Pädagogen entworfen. 31 Was geschah damals, wenn ein Schulkind diesen Vorgaben nicht entsprach? Kaum vorstellbar heute, dass Schüler dermaßen eingeengt und reglementiert wurden. Doch dies war Alltag, die Richtlinien wurden angeblich zum Wohle des Kindes erstellt. Und zum Besten des Lehrers, versteht sich, der nur so Zucht und Ordnung in seine Rasselbande bekam.
Die Zeiten haben sich geändert, heute wird nicht mehr nur frontal unterrichtet, die Schüler sitzen oft in Gruppen an Tischen, flegeln sich auch schon mal in ihren Stuhl, und von einem gerade aufgerichteten Rücken und einer exakt zur Tischkante ausgerichteten Thoraxwand kann längst keine Rede mehr sein. Doch noch immer herrschen subtile Unterdrückungsmethoden im Klassenzimmer. Die Prügelstrafe ist nicht mehr erlaubt, wurde allerdings mancherorts ersetzt durch Schikanen und Einschüchterungen. Hierzu veröffentlichte die Frankfurter Rundschau einen Artikelvon Katja Irle unter der Überschrift: »Die tägliche Beschämung« (07. 04. 2010). Darin heißt es wörtlich: »Die Prügelstrafe ist längst abgeschafft, geblieben ist der tägliche Machtmissbrauch, der viele Nuancen hat. Er reicht von der verbalen Herabsetzung einzelner Schüler über willkürliche Bewertungen von Leistungen bis zum Klaps auf den Po im Sportunterricht.« Die Rede, so betont Autorin Katja Irle, ist hier von schwarzen Schafen. »Von der Grundschullehrerin, die Ruhe in der Klasse nur durch Anbrüllen oder Bloßstellen einzelner Schüler erreicht, vom Sportlehrer, der Kinder zu riskanten Übungen zwingt […].«
Maßregelungen, zu denen die Lehrer früherer Generationen sicherlich auch griffen. Doch früher kam noch hinzu, dass sie bedenkenlos drauflos prügeln durften. Lehrer fühlten sich offenbar in einer gottgleichen Position. Das geht aus einem Erziehungshandbuch von 1828 hervor, in dem es heißt: »Ein Erzieher von wahrer Bildung kann sich mit Recht seiner hohen Bestimmung erfreuen, ein unmittelbares Organ der Gottheit, als der höchsten erziehenden Kraft zu sein.« 32 Und genauso verhielten sich die Lehrer: autoritär und unanfechtbar. In einer im Jahr 1887 von K. A. Schmid herausgegebenen Enzyklopädie des gesamten Erziehungs- und Unterrichtswesens steht: »Wie die Rute als Symbol der väterlichen Zucht im Haus gilt, so der Stock als das Hauptwahrzeichen der Schulzucht […] Dieselbe ist für manche Verfehlung gerade die angemessene Strafe. Sie demütigt und erschüttert.«
§ 22 der königlich-preußischen Schulordnung aus dem 18. Jahrhundert verfügte, den Kindern solle der Eigensinn oder Eigenwille mit Fleiß gebrochen werden. Lügen, Schimpfen, Ungehorsam, Zorn und Zank sollten durch Züchtigung bestraft werden. Zu Anfang des 19. Jahrhunderts herrschte strenge Ordnung an den Schulen, Drill gehörte zum Alltag. Karzer, Tatzen, Rohrstock waren die pädagogischen Hilfsmittel.
Der Lehrer droht mit dem Stock in der Hand
Viele, die in den 1950er und 1960er oder auch noch späteren Jahren zur Schule gingen, können sich gut an ähnlichen Drill, ähnliche Paukermethoden erinnern. Auch zu ihrer Zeit ging es vor allem diszipliniert, ordentlich, züchtig in der Schule zu. Nicht selten herrschte auf Schulhöfen und in Klassenzimmern ein wahrer Kasernenton. Kinder wurden oft von denselben Lehrern unterrichtet, geschlagen und malträtiert, die wenige Jahre zuvor noch mit erhobenem Zeigefinger Rassenkunde gelehrt hatten. Nach Angaben des US-Psychologen Lloyd deMause bekommt man eine Vorstellung von der Häufigkeit des Schlagens damals, wenn man hört, dass ein deutscher Schullehrer ausrechnete, er habe während seiner Unterrichtszeit 911 527 Stockschläge, 124 000 Peitschenhiebe, 136 715 Schläge mit der Hand und 1 115 800 Ohrfeigen verteilt.
Abweichler unter der Schülerschar wurden bitterlich bestraft, in die Ecke gestellt, vor der Klasse heruntergeputzt und – was heutzutage eigentlich zur sofortigen Entlassung der Lehrperson führen könnte – körperlich gezüchtigt. Ulla Hahn hat dies in ihrem Roman »Das verborgene Wort« aufs Vortrefflichste geschildert. Am Beispiel eines besonders sadistischen Lehrers
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