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Die geprügelte Generation

Die geprügelte Generation

Titel: Die geprügelte Generation Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Müller-Münch
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ihn in Ruhe ließ.
    Petra Vogelgesang, die als Psychologin in der DDR mit Kindern und Jugendlichen, Eltern, Lehrern und Erzieherinnen in Jugendhilfe-Einrichtungen gearbeitet hatte, schrieb zur Frage nach dem Ziel der DDR-Erziehung in einem Essay: »dass gute Kinder angepasste Kinder waren, dass es also um Anpassung ging.« 29 Was sie allerdings aus gutem Grund nicht unbedingt für eine DDRspezifische Zielsetzung hält. Vor allem eins schien ihr erwähnenswert, dass nämlich die Erfahrung mit Menschen anderer Kulturen in der DDR beschränkt war. »Es gab Solidaritätsbekundungen und Spendensammlungen, aber man begegnete sich nicht. Wenn es zu Spannungen kam, und die gab es zum Beispiel im Verhältnis zu polnischen Bürgern, wurden sie nicht thematisiert und schon gar nicht auf historische Wurzeln bezogen. Offiziell waren wir Brüder, fraglos. Inoffiziell kursierte ein Begriff wie ›polnische Wirtschaft‹ als Synonym für Unordnung, ohne dass sich jemand daran stieß.«
    Andersartigkeit wurde abgelehnt
    Nur ein Jahr nach meinem Besuch der beiden ehemaligen DDR-Kindergärten rottete sich im September 1991 in der Lausitzer Braunkohlearbeiterstadt Hoyerswerda ein fremdenfeindlicher Mob zusammen. Bedrohlich mit Kampfhunden und Springerstiefeln ausgerüstete Skinheads lungerten vor Plattenhausbauten herum, hinter deren zerbrochenen Fensterscheiben ab und zu das verängstigte Gesicht eines Vietnamesen oder Afrikaners auftauchte. Nach tagelangen Ausschreitungen übertrug das Fernsehen Bilder von Bussen, in denen die Ausländer von Hoyerswerda unter dem Gejohle schaulustig umherstehender Bürger evakuiert wurden. Als ich diese Bilder sah, musste ich an die beiden Ostberliner Kindergärtendenken. Und daran, mit wie viel Fleiß und wie viel Druck dort versucht worden war, die kindlichen Seelen auf Einheitlichkeit zu trimmen. Wie sehr es offenbar in der DDR-Erzie hung verpönt gewesen war, anders zu sein, aufzufallen, nicht der Norm zu entsprechen. Waren die Ausschreitungen von Hoyerswerda, der Rauswurf der Fremden, der Andersfarbigen, der Andersartigen womöglich eine direkte Folge dieser engstirnigen Erziehung? Haben die Menschen in Hoyerswerda nichts anderes getan als das fortzusetzen, was ihnen im Kindergarten so fleißig eingebläut worden war: Auffälligkeiten zu sanktionieren, auszumerzen, auszusondern? Denn nichts anderes lief da im September 1991 in Hoyerswerda ab. Und wiederholte sich später in ähnlich ausgrenzender Form gegenüber Ausländern in zahlreichen ostdeutschen Ortschaften.
    Als Christian Pfeiffer, Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen in Hannover, im Südwestrundfunk bei der Suche nach Ursachen von Jugendgewalt und Fremdenfeindschaft in den neuen Bundesländern die DDR-Erziehung, die Kleinkinddressur, die Sauberkeitserziehung, den kollektiven Gruppendruck als Ursache für die randalierende Jugend nannte, brach ein Sturm der Entrüstung los. Man sei es leid, von Besserwessis wie eine Horde ungebildeter Schwererziehbarer behandelt zu werden, wurde in den neuen Bundesländern protestiert.
    Doch bedurfte es gar nicht der Kritik eines Wessis. In einem Aufsatz, erschienen in dem Buch von Wolfgang und Ute Benz, schreibt die ehemalige DDR-Psychotherapeutin Annette Simon: »Mir kann niemand erzählen, dass es in einem Ort wie Mahlow bei Berlin (es könnte auch Ahrenshoop oder Magdeburg sein) nicht möglich wäre, die versammelten Jugendlichen am Bahnhof, die Nazilieder grölen, Reisende anpöbeln und bei jedem Menschen mit anderer Hautfarbe ausrasten, binnen kurzem zu zivilisiertem Verhalten zu bringen, wenn Väter und Großväter des Ortes, die Mütter und die Lehrerinnen, der Taxifahrer und die Verkäuferin ihnen eindeutig vermitteln würden, dass sie diesesVerhalten nicht dulden, dass sie es gemeinsam ächten und dass sie die Polizei rufen, wenn es nötig ist. Inmitten gut funktionierender Familien und Gemeinden wachsen nicht plötzlich jugendliche Monster heran.« 30

10. Kapitel
VOMLEHRER GIBT ES TATZEN
    Lineale, langgezogene Ohren und ausgestreckte Kinderhände
    »Das schreibende Kind soll in der Schulbank folgendermaßen sitzen. Die Füße sollen fest auf dem Boden oder dem Fußbrett ruhen. Vordere Thoraxwand, Sitzknorrenlinie, Hüftachse und innerer Tischrand sollen parallel sein, die untere Kante des Schreibheftes darf von der Richtung dieser Parallelen ebenfalls nicht abweichen. Der Rücken ist gerade aufgerichtet, an die Kreuzlehne gelehnt, und die vordere Thoraxwand von der

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