Die geprügelte Generation
Interessengruppen gespalten. Trotz immer wieder aufflammender Zwistigkeiten untereinander darüber, wie die Entschädigungspraxis aussehen sollte, waren sich allerdings alle darin einig, dass die öffentliche Anerkennung ihrer leidvollen Kindheit zwar wichtig sei. Dass dies allein jedoch nicht ausreiche. Dieses eine Mal wollten sie nicht billig abgespeist werden – wie schon ihr Leben lang. Auf Gesten, die nichts weiter sein würden als ein warmer Händedruck, könnten sie verzichten, hieß es.
Die Überlebenden aus den Heimen der DDR fühlten sich allerdings nicht repräsentiert bei der Wiedergutmachungsdiskussion. »Jene Tausende Heimkinder der DDR, die jahrzehntelang der Willkür eines unmenschlichen Erziehungssystems ausgeliefertwaren, wurden in Berlin gar nicht erwähnt. 21 Jahre nach dem Mauerfall zog die Kommission erneut eine Grenze«, kritisierte der Spiegel. Und das, obwohl es dort ebenso brutal wie in Westdeutschland zuging. So waren in Ostberlin und in Westberlin zum Beispiel »Heimkinder im beschriebenen Zeitraum den Erziehern total ausgeliefert, der Alltag extrem reglementiert, die eingesetzten Erzieher gingen in der Regel lieblos mit den Kindern um. Drakonische Bestrafungsaktionen, Schläge und auch sexuelle Übergriffe waren an der Tagesordnung«, so die Kernbotschaft eines unabhängig vom Runden Tisch erstellten Abschlussberichtes zur Heimerziehung in Berlin West 1945–1975 und Berlin Ost 1945–1989 36 .
Im Dezember 2010, nach zweijähriger harter Verhandlung, einigte man sich am Berliner Runden Tisch Heimerziehung darauf, dass ein Fonds von 120 Millionen Euro eingerichtet werden solle. Zu je einem Drittel soll er vom Bund, den Ländern und den Kirchen finanziert werden. Dieser Fonds, so steht es im Abschlussbericht, könne aufgestockt werden, wenn mehr Entschädigungsanträge gestellt würden, als aus dieser Summe finanziert werden können. Bis zu diesem Einigungstermin hatten die ersten etwa 2 500 ehemaligen Heimkinder Anträge gestellt. Sie müssen allerdings – und das wird nicht leicht werden –, um in den Genuss einer Entschädigung zu kommen, die an ihnen verübte Gewalt »glaubhaft« machen. Was immer das heißen soll. Es steht zu befürchten, dass derartige Formalitäten viele Geschädigte davon abhalten werden, Anträge zu stellen. Erste Entschädigungsprozeduren bestätigen dies. So hieß es am 20. Juli 2011 in der Süddeutschen Zeitung: »Katholiken entschädigen 560 Missbrauchsopfer. Fast alle Betroffenen, die einen Antrag gestellt haben, erhalten bis zu 5 000 Euro«. Doch gleichzeitig war zu hören, dass viele Opfer auf eine Wiedergutmachung verzichteten, vor allem aus Scham, wie ein Opfervertreter der SZ erklärte. Anderen wiederum sei der Antragsweg zu kompliziert. »Und dann gibt es welche, die wollen nur noch ihre Ruhe«.
Paul Brune, der eine Ausnahme ist, weil man sich bei ihm schon 2003 entschuldigte und ihm eine Rente gewährte, fuhr seinerzeit aus diesem Anlass extra in das Landtagsgebäude nach Düsseldorf. Ein kleiner Mann mit schon leicht krummem Rücken, einem noch immer üppigen Lockenkopf und einer schleppenden Stimme, die daher rührt, dass Paul Brune so viele Jahre seines Lebens keinen Mucks von sich geben durfte. Sonst setzte es was auf den »Schwätzermund«. Sonst wurden Kinder wie er voll bekleidet in einer mit kaltem Wasser gefüllten Badewanne untergetaucht. Solange, bis sie kaum noch Luft bekamen.
Genau hierfür entschuldigte man sich an diesem Tag im Düsseldorfer Landtag. Es war eine längst überfällige Geste, mit der Brune nicht mehr gerechnet hatte. Nach all den lebenslangen Kämpfen, die er ausgefochten hatte, trotz der vielen Steine, die man ihm allerorts in den Weg legte. Dabei hatte man ihm das Widersetzen doch eigentlich ausgetrieben, mit Hilfe von Zwangsjacken, in die man ihn steckte und die vom verkrusteten Blut der geschlagenen, verletzten Heimkinder schon ganz steif waren.
Die verbliebene Zähigkeit im Körper und in der Seele des Paul Brune ist das Erstaunlichste an der Lebensgeschichte dieses Menschen. Er, der wegen seiner Lebhaftigkeit und seines so wenig in die Grabesstille der Anstalten vor und nach dem Zweiten Weltkrieg passenden Redebedürfnisses nach acht Jahren aus der »Idiotenschule« geflogen war, hat Germanistik und Philosophie studiert. Sein Staatsexamen gemacht. Doch wie es hierzu kam, dass Paul Brune heute wie selbstverständlich Brecht zitiert oder auf berühmte Philosophen verweist, ist eine lange, eine traurige
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