Die geprügelte Generation
Geschichte. Und wer sie hört, der wird sie zuerst kaum glauben.
So ging es auch Brigitte Hermann vom Petitionsausschuss des nordrhein-westfälischen Landtags. Die Landtagsabgeordnete der Grünen las die 69 Seiten der Eingabe Brunes, mit der er schon viermal zuvor vergebens um eine Entschädigung gebeten hatte. Doch diesmal nahm man ihn ernst, recherchierte und konnte irgendwann nicht umhin, seinen Schilderungen zu glauben. Wasihm die Entschuldigung und die höchstmögliche von der Härtekommission des Landes NRW zu bewilligende Entschädigung als überlebendes Opfer der Nazi-Euthanasie einbrachte. Doch Brune ist nicht nur das. Er ist auch ein Opfer des übergangslosen Weiterexistierens von Heimen in alter Nazi-Tradition nach dem Krieg.
260 Euro monatlich für ein zerstörtes Leben
Er bekam an diesem Tag 260 Euro monatlich zugebilligt, zusätzlich zur Sozialhilfe, für ein zerstörtes Leben. Ein Leben, das eigentlich an dem Tag aufhörte normal zu sein, als sich seine Mutter, Paula Brune, mit ihren drei jüngsten Kindern, darunter der noch nicht einmal einjährige Paul, im Dorfteich ertränken wollte. Ihr Mann hatte sie, nachdem sie von einem benachbarten Bauern schwanger geworden war und Paul geboren hatte, mit Fäusten und einem Hammer zur Räson bringen wollen. Bei ihrem anschließenden Selbstmordversuch ertrank Pauls vierjähriger Halbbruder. Eine Schwester, Paul und die Mutter wurden gerettet. Paul kam, wie er später herausfand, »so nass und verdreckt, wie man mich aus dem Wasser gefischt hatte«, sofort ins St.-Josef-Waisenhaus nach Lippstadt. Dort begann sein Leidensweg.
Von nun an hieß es stillsitzen, stillschweigen. Der kleine Paul hielt das nicht aus. Wenn keiner guckte, tanzte er herum, neckte die anderen Kinder, die stumm stundenlang auf ihren Stühlchen hockten. In seiner »Irrenhausakte« – wie er hartnäckig das Dokument bezeichnet, das die vielen ärztlichen Hauruck-Einschätzungen seiner Person enthält – schlug sich sein Verhalten als »gemeingefährliche Umtriebe schon im frühkindlichen Alter« nieder. Später, im heimeigenen Horst-Wessel-Kindergarten, beschimpfte der Rektor, ein alter Nazi, den Jungen, der sich schon vor der Einschulung das Lesen selbst beigebracht hatte, vor der ganzen Klasse als »erblich minderwertig«.
1943 lieferten ihn die Nonnen ins Irrenhaus nach Dortmund-Applerbeckein, von wo aus er kurz darauf ins St. Johannesstift nach Niedermarsberg verlegt wurde, einer »Anstalt für Geisteskranke, Schwachsinnige und Epileptiker«. Er mache den Eindruck eines normal begabten Kindes, hieß es geradezu verwundert bei seiner Aufnahme. Trotzdem lautete die Diagnose »gemeingefährliche Schizophrenie«. Damals war so etwas ein Todesurteil, denn die in den Psychiatrien und Heimen Applerbeck und Niedermarsberg von den Nazis eingerichteten »Kinderfachabteilungen« sollten sogenannte »erbkranke« oder behinderte Kinder zur Euthanasie, also zur amtlicherseits angeordneten und exekutierten Ermordung auswählen. Auch der kleine Paul war hierfür vorgesehen. Anstaltspsychiater Heinrich Stolze hatte ihn als »lebensunwertes Leben« eingestuft. Paul rettete – so glaubt er heute – ein Test, ein fehlerfreies Diktat, bestehend aus kurzen Sätzen wie: »Wir rufen Heil Hitler« sowie ein Aufsatz, in dem er schrieb: »Ich wohne in Deutschland. Der Führer wohnt in Deutschland. Die Soldaten helfen ihm. Wir haben jetzt Krieg mit den Russen und Engländern. Die schießen die Soldaten, weil die unsere Häuser kaputt machen.«
Paul blieb, während viele Kinder einfach so verschwanden. »In meiner Zeit«, sagt Brune, »von Anfang September 1943 bis Anfang der 50er Jahre sind hier 500 Kinder gestorben. Ganz zu schweigen von den Kindern, die 43/44 in die Vernichtungsanstalten geschickt wurden.« Später fragte er sich unentwegt, wie er diese Kinderhölle hat überleben können. Denn der kleine, gerade mal achtjährige Paul sah die etwa Gleichaltrigen seiner Station, die zu den »braunen« Schwestern mit ihren Peitschen in die »Kinderfachabteilung« des Erdgeschosses verlegt wurden, nie wieder. Er durfte bleiben, musste aber immer häufiger im Gewand des Messdieners hinter dem Anstaltspfarrer Kindersärge zum heimatlichen Friedhof begleiten.
Die Mauer des Schweigens hält dicht
Jahre später, als er all dem längst entronnen war, suchte er die Nonnen seines Waisenhauses auf, die ihn zur Euthanasie nach Dortmund-Applerbeck abgeliefert hatten. Dort stieß er auf eine Mauer des Schweigens und
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