Die geprügelte Generation
Schillers Zauberlehrling oder die Kraniche des Ibikus. All dies hatte er aufgeschnappt, geklaubt aus verstohlen gelesenen Büchern.
In Münster traf er zum ersten Mal auf Menschen, die sich nicht nur im Kasernenhofton miteinander verständigten, die miteinander redeten, diskutierten. Ein Priester, wegen Unzucht mit Minderjährigen dorthin eingewiesen, feilte mit ihm an seiner Aussprache, übte mit ihm die deutsche Grammatik, setzte sich in Briefen an das Vormundschaftsgericht für Paul Brune ein. Eines Tages war es dann wirklich so weit: Brune wurde freigelassen, war von nun an auf sich selbst gestellt.
Zunächst schlug er sich bei Bauern als Hilfsarbeiter durch. Nutzte jede Minute für seine Bildung. »Von den Stunden der Verzweiflung bei diesem Bemühen will ich erst gar nicht reden.« Es gelang ihm, sein Abitur nachzumachen. Germanistik und Philosophie zu studieren. Er lernte Psychiater kennen, die entsetzt über das waren, was in seiner Krankenakte steht. Die ihn ermutigten, für das erlittene Unrecht auf Entschädigung zu drängen. 1966reichte er seine erste von insgesamt fünf Eingaben beim Petitionsausschuss ein. Erst die letzte, bei der ihn die Grünen-Politikerin Brigitte Hermann unterstützte, war erfolgreich.
Die Diagnose der Nazi-Ärzte blieb an ihm hängen
Doch die unhaltbaren Diagnosen der Naziärzte haben ihn nicht nur um seine Kindheit, sondern später auch um seinen Beruf gebracht. Als er 1978 sein Referendariat an einem Gymnasium beginnen wollte, schaltete sich das Bochumer Gesundheitsamt ein. »Ein ewiger Student? Eine soziale Drohne?«, sinnierte ein Amtsarzt schriftlich über Paul Brune und verwies in seinem Eifer, Brunes Referendariat zu verhindern, auf einen Eintrag, 1943 vom Nazidirektor der Horst-Wessel-Schule vorgenommen. Danach sei Brune »das Schulbeispiel für asoziales Verhalten infolge Erbanlage«. Und als reiche dies nicht aus, um Brune zu diskreditieren, fügte dieser Amtsarzt im Jahr 1978 noch hinzu: »Paul Brune stammt aus einer ehebrecherischen Beziehung der Mutter«. Brune nahm dies nicht hin, wusste sich inzwischen zu wehren. Über das Verwaltungsgericht bekam er die Erlaubnis, sein Referendariat abzuschließen. Doch Lehrer werden durfte er nie. Irgendwie kann er das auch verstehen. »Man hat ja nicht wissen können, ob nicht doch an all dem, was da in meiner Irrenhausakte stand, etwas dran gewesen ist.«
Noch heute lebt Brune in der kleinen Bochumer Wohnung, in der ich ihn im Jahr 2003 aufsuchte und lange mit ihm sprach. Er ist inzwischen über 70 Jahre alt, bekommt nach wie vor seine Zusatzrente, von der er sich ein kleines Auto gekauft hat. Damit unternimmt er Ausflüge an die Ruhr, ins Sauerland, meist alleine. Liebt nach wie vor die Natur. Er hat bis heute weder Fernseher noch Radio, hält sich allerdings für einen politisch ausgesprochen gut informierten Menschen, da er regelmäßig in der Bibliothek der nahegelegenen Universität ausführlich Tageszeitungen liest. »Natürlich bin ich noch geistig rege«, versichert er mir munteram Telefon. Und zufrieden sei er auch, räumt er ein. »Relativ«, schickt er hinterher. »Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, kann ich nur sagen, ich lebe wie ein Fürst. Muss die Toilette nicht mit 50 anderen teilen. Habe eine eigene Dusche, eine eigene Wohnung.« Die ist bescheiden, sehr klein, vollgestellt mit Büchern, »aber die habe ich ganz für mich alleine«, so Brune.
12. Kapitel
ILKABLEIBT DIE LUFT WEG
Hier ist Krach
Ilka war ein wüstes, ein aufmüpfiges Kind, das auch die Eltern nicht kleinbekamen, ein Mädchen, das viel Platz zum Leben benötigte. Den Freiraum hierfür bekam sie zu Hause nicht. Dort wurde ihr die Luft eher abgeschnürt. Deshalb brauchte sie ein Ventil, mit dessen Hilfe sie atmen konnte. Dieses Ventil waren ihre Tagebücher, denen sie zeitweilig fast täglich ihren Zorn und ihre Schmerzen anvertraute. Die sie bis heute aufbewahrt hat und auf meine Bitte hin hervorkramte. Kleine, abgegriffene, vollgekritzelte Hefte.
»Hier ist Krach« heißt es darin. Ihr Bruder hatte sie in der Eifel, wo ihre Familie ein Wochenend-Haus besaß, an dem Tag wohl dreimal so heftig verprügelt, »da ist mir die Oberlippe aufgeplatzt und es hat doll weh getan, da hab ich die Wut gekriegt und ihn voll in den Magen mit dem Ellenbogen gehauen. Ich lass mir nichts mehr gefallen, die Zeiten sind vorbei!« Den Ehekrach ihrer Eltern notierte sie an dem Tag, als die Mutter ankündigte, sie wolle sich scheiden lassen. Ein anderes Mal
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