Die geprügelte Generation
gefallen bin und habe geweint, dann haben mich meine Cousins geschlagen. Haben gesagt, warum, du bist doch kein Mädchen. Ein Mann weint nicht. Du musst ein Mann sein. Dann haben die mich geschlagen. So eine Art Abhärtung. Wenn ich zum Beispiel Scheiße gebaut hab, dann gab’s auch mal Schellen, also Schläge. Nicht reden. Erst mal Schläge, dann wird geredet. Dann ist ja mein Vater sauer. Erst mal Wut rauslassen. Wenn ich jetzt Kinder kriegen würde, ich glaub, ich würde die auch schlagen. Ich sage jetzt, dass wenn ich älter werde, ich weiß nicht […] Es geht ja immer weiter. Ich denke mal, ich werde später auch schlagen.
Die Schriftstellerin Mirijam Günter beschrieb in der Süddeutschen Zeitung (23. 10. 2010) ihre Erfahrungen mit acht inhaftierten türkisch- und arabischstämmigen Jugendlichen, mit denen sie eine ihrer Literaturwerkstätten abhielt. Als sie diesen jungen Männern erklärte, dass in Deutschland jedes Kind das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung habe, schauten sie acht Augenpaare fassungslos an. »Das glaube ich nicht«, sagte einer der Teilnehmer. »Das Gesetz gilt aber nur für deutsche Familien«, behauptete ein Junge, und alle in der Gruppe begannen nun, von Prügeln in ihrer Kindheit und Jugend zu berichten, die mit Händen, Fäusten, Ledergürteln oder allem, was so herumlag, verabreicht wurden. »Das ist normal bei uns«, so einer der Jungen. »Wir haben doch vor niemandem Respekt. Die Bullen und die Lehrer sind doch Witzfiguren. Ich habe nur vor meinen Eltern Respekt.« In vielen der Projekte, die Mirijam Günter anbietet, erzählten ihr allerdings nicht nur die Teilnehmer aus Migrantenfamilien von Gewalt, die sie zu Hause erleben mussten.
So geht es »definitiv nicht nur in Migrantenfamilien zu«, versicherte mir auch Traumatherapeut Arne Hofmann. Es »gehtdurch alle Schichten.« Wobei der körperliche Missbrauch in den unteren Schichten etwas häufiger vorkomme. Der sexuelle Missbrauch allerdings, den findet man seiner Erfahrung nach schichtenunabhängig in allen möglichen Familien. Und emotionale Gewalt ist ebenfalls, so Hofmann, »relativ gleich verteilt.« Dies alles hänge vom Grad der Informationen ab, die jemand erhalte und in die Praxis umzusetzen bereit und in der Lage sei. Selbstverständlich sei der Prozentsatz von Menschen, die ihre Kinder prügeln, höher, wenn sie aus anderen Kulturen kämen, »in denen Prügeln einfach Standard ist –und in vielen, vielen Ländern der Welt ist das Standard. Und es braucht Zeit, bis sich ein anderer Umgang durchsetzt. Gerade wenn man selber geprügelt worden ist und es in der Familie eine Tradition dazu gibt, ändert sich das nicht von heute auf morgen.«
Beate ist Sonderpädagogin an einer städtischen Grundschule mit einem Ausländeranteil von 80 %. Es fällt ihr schwer dahinterzukommen, ob eines der Kinder geschlagen wird oder nicht. »Also ich kann das definitiv nicht genau feststellen, weil das ein ganz heikles Thema ist und wir da vorsichtig mit umgehen. Aber meine Vermutung ist, dass bestimmt die Hälfte aller Kinder mit Migrationshintergrund auf jeden Fall Gewalterfahrung haben. Es gibt welche, da vermute ich es nur, vom Verhalten. Und es gibt welche, die kommen mit großer Offenheit zu mir und schildern das. Es gibt Kinder, die sind selber sehr aggressiv. Das zeigt sich dann darin, dass sie ihre Erlebnisse eben weitertragen. Es gibt aber auch die Kinder, die sehr verschüchtert sind, fast ein bisschen apathisch, wo man so den Eindruck hat, die leben in einer Parallelwelt. Gibt es beides, also es kann in die oder in die Richtung gehen«, so Beate im Gespräch mit mir.
Zur ihr kommen Kinder, die ihr von Gewalt zu Hause berichten, sie aber gleichzeitig anflehen, mit großer Angst, »sprich hierüber bloß nicht mit meinen Eltern, sonst krieg ich noch mehr Schläge. Also die kommen eher so vertrauensvoll. Aber viele erzählendas beiläufig.« Oftmals fällt ihr zunächst nur auf, dass ein Schüler dem Unterricht nicht mehr folgt, regelrecht blockiert ist. Wie neulich, wo einer dann in einem Nebensatz die Bemerkung fallen ließ: »Oh Gott, wenn ich das jetzt nicht verstehe und mein Vater das mitkriegt, dann werde ich geschlagen.«
Sie weiß, dass sie mit einer solchen Information nicht einfach zu den Eltern hingehen und sie zur Rede stellen kann. Die würden das sicher vehement abstreiten und ihren Zorn später wieder an dem Kind ablassen. Oder sie würden ihr sagen, ach, hier ist das verboten, aber bei uns ist
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