Die geraubte Braut
durchgeführten Erkundungsgänge festgestellt hatte, war er so niedrig, dass man sich darin nicht aufrichten konnte.
Es war völlig still. Von den Männern, unter denen sie als einzigen Giles Crampton erkannt hatte, war kein Laut zu hören.
Niemand wusste, dass sie hier auf der Lauer lag, nicht einmal Olivia, die vermutlich schon im Bett war. Aber Portia hatte von klein auf schon die Gewohnheit gehabt, sich mit ihrer Umgebung vertraut zu machen. Das geschah am besten nachts und unbeobachtet. Es war erstaunlich, was man entdecken konnte die Szene im Graben unter ihr gab ihr recht.
»Wir haben etwas gemeinsam, du und ich.«
Verdammter Kerl! Warum schlich er sich ständig in ihre Gedanken ein? Portia stieß eine leise Verwünschung aus. Das Problem war nur, dass es stimmte. Sie spionierte, wie Rufus Decatur es getan hatte. Sie schlich nachts durch die Festung und versuchte, Dinge über eine Umgebung in Erfahrung zu bringen, in der sie nicht wirklich zu Hause war. Sie war eine Ausgestoßene und genauso auf sich allein angewiesen wie dieser aufreizende Rufus Decatur. Er aber hatte es im Gegensatz zu ihr durchschaut.
Mit einem weiteren kräftigen Fluch widmete sie sich wieder ihren Beobachtungen.
Sie blickte von einem der uralten, in den Wehrmauern eingebauten Abtritte auf die Szene hinunter. Dieser hier war genau über der Zugbrücke. Vor etwa dreihundert Jahren bei der Erbauung des Schlosses installiert, war der Raum seit langem unbenutzt, doch der hinunter in den Graben gerichtete Schacht existierte noch. Auf dem Bauch liegend konnte sie die Aktivitäten aus der Vogelperspektive beobachten, und was sie sah, war ungemein fesselnd.
Es war das dritte Mal in einer Woche, dass sie dieselbe Szene beobachtete. Die Maultiere trafen kurz nach Mitternacht ein und wurden von Männern aus der Burg in Empfang genommen.
Das Abladen ging in aller Eile und Lautlosigkeit vor sich, und als sie jetzt hinunter spähte, verschwand der letzte Mann mit seiner Laterne in der Mauer, und es herrschte wieder Dunkelheit und nächtliche Stille.
Portia richtete sich zu hockender Stellung auf. In dem winzigen Raum roch es feucht und modrig, Moos wucherte an den Wänden und zwischen den Bodensteinen, doch als Ausguck war er hervorragend geeignet. In den Wehrgängen über dem Graben gab es einige solcher Abtritte, so dass man viele Punkte im Umkreis der Burg aus der Vogelperspektive beobachten konnte.
Aber was hatte sie gesehen? Mitten in der Nacht traf regelmäßig irgendeine Fracht ein. Hast und Verstohlenheit, mit der sie ins Burginnere geschafft wurde, ließen darauf schließen, dass niemand, auch nicht die Burgbewohner, davon wissen durften. Und schon gar nicht der Earl of Rothbury. Nach seinen vorangegangenen Aktivitäten zu schließen, gab es auf Granville freilich nicht viel, von dem Rufus Decatur nichts wusste.
Portia gähnte und richtete sich langsam zu ihrer vollen, mageren Größe auf Waren für ihn in der Burg Späher tätig? Vielleicht hatte er die Szene sogar ebenso beobachtet wie sie. Sie ertappte sich dabei, dass sie ständig darauf gefaßt war, ihn zu sehen -wenn sie aus dem Augenwinkel flüchtig eine bekannte Gestalt zu erkennen glaubte, wenn sie Neuankömmlinge beobachtete und eine mögliche Verkleidung zu durchschauen versuchte, unter der sie Decatur vermutete. Es war lächerlich und ärgerte sie, doch sie konnte die Angewohnheit nicht abschütteln. Und das Schlimmste war, dass sie nicht unterscheiden konnte, ob sie Angst um ihn ausstand oder ob der Gedanke an seine Tollkühnheit ihr eine Art nachempfundener Erregung verschaffte.
Es war eine Frage ohne Antworten, eine, die man lieber gar nicht stellte. Sie schlüpfte aus der Zelle und lief den Wehrgang entlang, eng an die Brustwehr gedrückt, in der Hoffnung, für die Posten auf den Türmen unsichtbar zu bleiben.
Ungehindert erreichte sie die schmale Treppe, die zur Verbindungsbrücke zwischen dem Wohngeschoß der Hauptburg und den äußeren Wehrmauern führte. Sie wurde selten benutzt, obwohl Olivia ihr anvertraut hatte, dass sie im Sommer oft auf den Wehrgängen lustwandelte, wenn es ihr gelang, Diana zu entschlüpfen. Ansonsten erging sich die Familie, wenn ihr nach frischer Luft zumute war, in den an den Wohntrakt anschließenden Gartenanlagen, zu denen auch ein Obstgarten gehörte.
Sie gelangte ungesehen in ihre Kammer und zog sich unter ausgiebigem Gähnen aus, um sofort ins Bett zu hüpfen. Der Raum war viel wärmer, seitdem sie sich einen ausreichenden Vorrat
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