Die geraubte Braut
nicht mehr, wie ich Leben konnte, ehe du k-kamst. Ich h-hatte noch nie zuvor eine F-freundin.«
»Jetzt hast du eine«, sagte Portia lächelnd. Sie glitt von der Bank und trat zurück ins Gemach, das ihr nach der Hitze der Kaminecke wie ein Eiskasten vorkam. »Komm«, schlug sie vor. »Gehen wir eislaufen. Die Sonne scheint. Die Enten werden sicher hungrig sein, und es ist viel zu schön, um sich hier zu verkriechen.«
Olivia war so heiser, als hätte sie die letzte halbe Stunde lauthals geschrien, doch ihre namenlose Angst ließ allmählich nach. Vielleicht würde Brian gar nicht kommen. Ihr Vater rechnete mit dieser Möglichkeit.
Vielleicht kommt er nicht. Er kommt nicht, kommt nicht.
Sie wiederholte es wie eine Litanei immer wieder, bis die Worte ihren Kopf ausfüllten und die letzten Spuren der Angst vertrieben.
»Am besten, wir stehlen uns davon, d-damit wir Diana nicht begegnen«, sagte sie. »Sie ist so sch-schlechter Laune, dass sie sich sicher etwas Schlimmes für mich ausdenkt, wenn sie mich erwischt.«
»Und wenn du mir einen Mantel borgst, brauche ich meinen nicht zu holen und riskiere nicht, mit Janet zusammenzustoßen.« Portia ging zur Tür und öffnete sie einen Spaltbreit, um in übertriebener Verschwörermanier hinauszuspähen, so dass Olivia unwillkürlich lachen musste.
»Nimm diesen.« Olivia nahm ihren Mantel vom Türhaken. »Ich ziehe meinen b-besten an.« Sie holte ihn aus dem Schrank und hakte den Halsverschluß ein. Ihre Hände waren völlig ruhig, als sie die Handschuhe überstreifte.
»Fertig?« Portia zog die Kapuze über den Kopf.
Olivia nickte.
Sie eilten den Gang entlang, brachten die Brücke zu den Wehranlagen hinter sich und liefen eine Treppe hinunter, über die sie in den Außenhof gelangten, wo sie vor Diana und Janet Beckton so gut wie sicher waren.
Im äußeren Hof herrschte geschäftiges Treiben, Soldaten eilten zwischen den Stallungen, der Rüstkammer, der Schmiede und dem Beschlagmeister hin und her. Vor dem Getreidespeicher wurden Vorräte von einem Wagen abgeladen, ein anderes Fuhrwerk mit Bier- und Weinfässern stand vor der Kellerrampe.
»Warum legt m-mein Vater so große Vorräte an?« fragte Olivia.
»Vielleicht bereitet er sich auf eine Belagerung vor«, gab Olivia zur Antwort, als sie in den Stall gingen, um ihre Schlittschuhe zu holen und sich die Taschen mit Getreide für die Enten auf dem zugefrorenen Graben vollzustopfen. »Mitten im Winter ruhen die Waffen, sobald aber der Frühling kommt, geht alles richtig los. Castle Granville ist eine mächtige Festung, und dein Vater hat eine so große Streitmacht aufgestellt, dass die Truppen des Königs sehr wohl versucht sein könnten, eine Belagerung anzufangen, um deinen Vater und seine Armee aus den Kämpfen herauszuhalten.«
»Ach.« Olivia musste dies erst verarbeiten. Sie hatte sich mit dem Gedanken an den Krieg und alles, was er mit sich brachte, noch nicht vertraut gemacht, da er sie nicht wirklich berührte und sie ihn nur insofern spürte, als sie das Festungsgelände nicht verlassen durfte, weder zu einem Ausritt noch zur Falkenjagd. Auch war ihr ein Besuch im Dorf Granville am Fuß des Hügels untersagt. Da das Wetter aber wenig einladend war, hatte sie die Einschränkungen kaum wahrgenommen. Mit dem Nahen des Frühlings würde sich dies jedoch ändern.
Sie lief hinter Portia auf die Zugbrücke, die Kufen aus Bein unter dem Arm. Das Eislaufen auf dem Burggraben war notgedrungen zu ihrer bevorzugten Aktivität außer Haus geworden, da ihnen außerhalb der Wehrmauern alles verboten war.
Portia hatte bereits die Hälfte der von der Zugbrücke hinunterführenden Eisenleiter hinter sich gebracht. Sie setzte sich aufs Eis, um die Kufen anzuschnallen, dann stand sie behände auf, schon viel sicherer als noch vor kurzem.
Während Olivia ihre Kufen befestigte, lief Portia in die Mitte des Grabens und versuchte eine Drehung. Ihr Blick suchte die dunklen Umrisse der Geheimtür unter der Zugbrücke und fand sie. Falls heute keine Lieferung käme, wollte sie nachts feststellen, ob sie sich von außen öffnen ließ. Die Tür musste mit einem Gang innerhalb der Mauern im Verbindung stehen. Doch ihre Chancen, ihn im Gewirr der Wehrmauern ausfindig zu machen, waren äußerst gering. In der Mauer musste ein Riegel oder ein Hebel angebracht sein – es sei denn, der Eingang ließ sich vom Graben aus nicht öffnen …
»Da sind sie, genauso wie gestern.« George deutete hinunter zum Graben. Die Blicke seiner zwei
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