Die geraubte Braut
selbst hätte in einer ähnlichen Situation ebenso gehandelt wie Portia Worth.
Trotzdem war es ärgerlich, den Großteil des Abends hinter ihr herjagen zu müssen. Ärger schwang mit, als er rief: »Portia, lasst den Schlitten und kommt her.«
Portia schenkte ihm keine Beachtung. Sie biss die Zähne zusammen und stemmte die Stange gegen das Eis. Wenn sie jetzt anhielt, würde sie das bisschen Schwung verlieren. Da sie vor sich keine Lichter sehen konnte, nahm sie an, dass man sich im Dorf schon zur Ruhe begeben hatte. Unwillkürlich sah sie die schmale Liegestatt im Apfelspeicher, Feuer und Kerzenlicht vor sich. Rasch verdrängte sie diese Bilder und konzentrierte sich auf die Notwendigkeit, den Schlitten über das Eis zu bewegen.
Rufus' Gereiztheit steigerte sich wieder. »Herrgott, Mädchen! Könnt Ihr nicht tun, was man Euch sagt?« Seine Stimme hallte über den Fluss.
Diesmal blickte sie auf und sah, dass er sein Pferd gezügelt hatte und in den Bügeln aufgerichtet dastand, die Hände als Trichter vor dem Mund gewölbt.
»Warum?« fragte sie, in ihrem Bemühen nicht nachlassend.
Eigensinniger konnte kein Mensch sein! »Weil ich es sage!« brüllte Rufus. »Kommt sofort her!«
Portia warf die Stange weg und trat aufs Eis. Es war ihr einerlei, welche Foltern der Herr von Decatur für sie vorgesehen hatte. Vor Kälte und Erschöpfung dem Ende nahe, war ihr sogar der Tod als Erlösung willkommen. Schlitternd und rutschend gelangte sie ans Ufer und blieb dort stehen, die Hände in die Hüften gestützt. »Was nun?« fragte sie mit finster zusammengezogenen Brauen.
Rufus beugte sich aus dem Sattel. »Gebt mir Eure Hand, und setzt einen Fuß auf meinen.«
Noch immer zögerte Portia und musterte ihn argwöhnisch. Was sie sah, war nicht eben beruhigend. Hatte er sich wirklich anders besonnen und bot ihr an, sie hoch zu Ross ins Dorf zu bringen?
»Wenn ich absteigen muss, Mistress Worth, wird es einer von uns bereuen«, erklärte Rufus mit einem ungeduldigen Fingerschnalzen So oder so, sie hatte keine andere Wahl. Portia kletterte die Böschung hinauf und erfasste seine große Hand mit schmerzlich festem Griff. Mit allerletzter Kraft schaffte sie es, ihren Fuß so hoch zu heben, dass sie an seinen Stiefel im Bügel herankam. Sogleich wurde sie hochgezogen und landete vor ihm im Sattel, ohne dass sie selbst einen Muskel gerührt hätte.
»Wollt Ihr den Schlitten hier stehen lassen?« fragte sie. »Habt Ihr nicht gesagt, Bertram, oder wie immer er heißt, erwartet ihn dort vorzufinden, wo er ihn zurückließ?«
Rufus war verblüfft. Ließ sie sich denn durch gar nichts unterkriegen? Dann spürte er ihr Beben, die Starre ihres mageren Körpers. Sie hatte sich halb zu ihm umgewendet, als sie ihre Anschuldigung äußerte, und das Mondlicht fiel auf ihr weißes Gesicht. Er sah die Müdigkeit in den schrägen grünen Augen, spürte ihre Angst unter dem Widerspruchsgeist. Ohne zu überlegen, hob er seine Hand und umfasste die Rundung ihrer Wange. Ihre Augen wurden groß, und ihre Angst wich einem anderen Gefühl, einem Staunen, das den Anflug einer Vorahnung in sich barg. Und er wusste, dass sie wie er daran dachte, wie er sie im Hof von Castle Granville aus einer Laune heraus geküsst hatte. Es hatte nichts bedeutet. Er hatte sich nichts dabei gedacht.
Er ließ ihre Wange los, hüllte sie mit einer jähen Bewegung in seinen Mantel und spornte Ajax zu einem leichten Galopp an.
Portia versuchte sich trotz ihrer Müdigkeit aufrechtzuhalten. Ihre Wange war noch warm -von der sonderbaren kleinen Liebkosung, doch sagte ihr ihr Instinkt, dass es eine Verirrung war, ähnlich widernatürlich wie eine streichelnde Tigerpfote. Er hatte sie im Burghof geneckt und mit ihr gespielt, und jetzt war es ähnlich. Offensichtlich machte es ihm Spaß, mit ihr zu tändeln. Ihr war schleierhaft, wie sie auch nur eine Sekunde hatte glauben können, die Geste sei ehrlich gemeint. Er musste ihre Anfälligkeit in ihrem Blick gelesen haben.
»Ihr müsst Euch zurücklehnen!« Rufus zog sie mit einer ungeduldigen Bewegung zu sich. »Ich bin kein Stachelschwein.« Er hielt sie so fest, dass ihr nichts übrigblieb, als sich an seine breite Brust sinken zu lassen. Sie spürte seinen kräftigen Herzschlag. Ihr eigenes Herz schien im gleichen Rhythmus zu schlagen und versetzte sie in einen merkwürdigen Dämmerzustand.
Nach knapp zehn Minuten ritten sie im dunklen Dorf ein, und Portia dachte in ihrer Benommenheit schaudernd, wie lange sie wohl
Weitere Kostenlose Bücher