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Die Germanen: Geschichte und Mythos - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Die Germanen: Geschichte und Mythos - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Titel: Die Germanen: Geschichte und Mythos - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert F. Pötzl
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Wettergott.
    Das hat er zunächst gemeinsam mit seinem Sohn, dem Verwalter von Donner und Blitz, genannt »Thor« oder »Donar«. Weil er Blitze schleudert und das Licht auf die Erde wirft wie der römische Jupiter, wird Thor oft mit diesem gleichgesetzt. Thor ist auch ein Regengott, der die Saat aufgehen lässt. Zu seinem Geleit gehören zwei Ziegenböcke. Hat er einen Gast, werden die Ziegen geschlachtet und verzehrt. Am nächsten Morgen macht er sie wieder lebendig. Mit seinem Hammer Miölnir schlägt er gewaltig um sich, damit bekräftigt er auch Verträge – wie noch heute der Hammer des Auktionators zeigt. Thor ist unter anderem der Bezwinger der Riesen. Einmal besucht er den Riesen Hymir. Da dessen Vorräte für den Appetit der beiden nicht ausreichen, unternehmen sie gemeinsam einen Fischzug. Als Köder nimmt sich Thor den Schädel eines Stiers, den er kurzentschlossen einem der Stiere des Riesen abreißt. Thor und Hymir rudern hinaus auf das Meer – da beißt die grässliche Seeschlange Midgard an. Thor stemmt sich, um sie an Bord zu ziehen, so heftig gegen das Schiff, dass dessen Boden durchbricht. Plötzlich steht Thor auf dem Meeresboden. Als Thor die Angelleine mit der Riesenschlange am Haken näher ans Boot zieht, durchschneidet der Riese in Panik die Leine, und die Schlange versinkt im Meer. Thor schleudert ihr seinen Hammer hinterher, doch ob das Untier stirbt, bleibt offen.
    Der rustikale Thor behauptet sich gern laut und muskulös. Die Macht des eigentlichen Himmelsherrn ist subtiler: Sturmgott Odin ist auch der Gott des Atems. Das macht ihn zum Gott der Seele, die nach dem Tod des Körpers im Jenseits unterkommt: in »Walhalla«, dem Paradies der Helden, sofern der Tote im Krieg gefallen ist – im Bett Gestorbene landen in der weniger glanzvollen Unterwelt der Göttin Hel.
    Odin, der auch als »Allvater« verehrt wird, gilt als Klügster der Götter, weil er als Erster die Runen verstanden hat – die Kunde von jenen magischen, uralten Inschriften gilt unter den weithin schriftlosen Germanen als übermenschliche Fähigkeit. Allerdings muss Odin neun Tage lang an dem vom Sturm geschüttelten Weltenbaum Yggdrasil hängen und sich selbst mit dem Speer kasteien, bis er, vor Schmerz stöhnend und herabsinkend, die Runentafeln entziffern kann. Die Selbstkasteiung, mit der sich Odin die Weisheit der Runen erschließt, entspricht altem Schamanen-Brauch: Ohne schmerzhafte Prozeduren gelangt der zaubernde Priester nicht an sein höheres Wissen. Ohne Leiden kein Wissen. Die Selbstverletzung Odins erinnert daran: Heilige Zeichen werden ursprünglich mit Blut fixiert.
    Der Schriftdeuter wird dann zum Gott der Redner und der Dichter. Er versteht sich auf die »Runen der Rede«, wie es später in der Lieder-Edda heißt. Sie enthält auch die poetische »Weissagung der Seherin«, in der ein umfassendes Lebensbild vom Goldenen Zeitalter bis zum Weltuntergang entworfen wird. Es ist der Monolog einer Prophetin aus dem Geschlecht der Riesen. Sie spricht im Auftrag Odins.
    Als Herr der heilenden Zaubersprüche ist Odin auch Schirmherr der Heilkunst; es gibt einen Neunkräutersegen, der in ihm den Beschützer vor Giftschlangen preist. Im Zweiten Merseburger Zauberspruch, einem auf Althochdeutsch überlieferten Text, wird erzählt, dass das Pferd von Balder, Odins Sohn, sich ein Bein knapp oberhalb des Hufes verletzt hat. Vater Wotan alias Odin singt den heilenden Zauberspruch: »Sei es Beinrenkung, sei es Blutrenkung / sei es Gliedrenkung / Bein zu Bein – Blut zu Blut / Glied zu Gliedern, so seien sie wie geleimt« (»ben zi bena, bluot zi bluoda, lid zi geliden, sose gelimida sin«).
    Obwohl Odin auch der göttliche »Schüttler des Speeres« (so nennt ihn ein Skalde, einer der skandinavischen Poeten des 9. Jahrhunderts), also der Gott der Krieger ist, gibt es für den Krieg im germanischen Raum noch eine eigene göttliche Instanz: »Ziu«, auch »Tyr« genannt, ebenfalls ein Sohn Odins – sprachgeschichtlich vielleicht verwandt mit lateinisch »deus« (»Gott«). Tacitus sieht in ihm die germanische Version des römischen Kriegsgottes Mars. Tyr oder Ziu ist in den Wochentagsnamen »tirsdag« (dänisch) und »tuesday« (englisch) konserviert.
    Erst reichlich spät, im 7. Jahrhundert, taucht der Name Odins auf, eingraviert in eine alamannische, bei Augsburg gefundene Gewandnadel, eine sogenannte Runenfibel – und zwar in der Form »Wotan«. Hauptgott vieler germanischer Stämme ist er aber wohl schon im 3.

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