Die Germanen: Geschichte und Mythos - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
nach knapp 2000-jähriger Liegezeit im Erdreich wieder ans Tageslicht gelangt – mit flammend roter Haarpracht, buschigen Augenbrauen und Backenbart. Doch einer einheitlichen Deutung entziehen sich die mysteriösen Toten. Mal liegen sie gewandet in Tuch und mit Schuhen in ihrem feuchten Grab, mal nackt und grausam verstümmelt. Waren es Sklaven, die der germanischen Gottheit Nerthus bei Waschungen behilflich waren und bei dieser Gelegenheit von einem See verschlungen wurden, wie Tacitus nahelegt? Oder handelt es sich in der Mehrzahl doch um Aussätzige und Verfemte, über die das Gesetz der Germanen grausam geurteilt hatte? Hinweise für die Leiden der Sumpftoten finden sich zuhauf. Dem in Jütland aufgefundenen »Grauballe-Mann«, der im 3. Jahrhundert vor Christus gelebt hatte, war von seinen Peinigern erst das Schienbein gebrochen und anschließend die Kehle durchgeschnitten worden. Noch drastischer hatte sich ein unbekannter Täter an dem »Mann von Dätgen« vergangen, der um 250 nach Christus ermordet wurde. Im Zuge der Hinrichtung war der etwa 30 Jahre alte Mann enthauptet worden. Zwei Messerstiche trafen das Opfer ins Herz. Mit einer Axt war ihm zudem der Penis abgeschlagen worden.
Andere Funde künden von einem recht unbarmherzigen Umgang mit Schwachen und Gebrechlichen. Dem »Jungen von Kayhausen«, südöstlich von Bad Zwischenahn, hatte eine Fehlstellung des Hüftgelenks das Laufen wesentlich erschwert. Vermutlich verursachte extremer Hunger die Missbildung des Skeletts. Die frühen Entbehrungen musste der Heranwachsende schließlich doppelt büßen. Noch vor Erreichen seines neunten Lebensjahrs wurde der Knabe mit drei Stichen in den Hals getötet. Eine Rückgratverkrümmung wurde wohl dem 16-jährigen »Mädchen von Yde« zum Verhängnis; vermutlich zog die junge Frau ein Bein nach. Ihr Mörder hatte ihr eine Schlinge um den Hals gelegt. Außerdem war sie durch einen Messerstich am Schlüsselbein verletzt worden.
Forschern ist vor allem die große Zahl körperlich Behinderter aufgefallen, die offenbar einst im Morast versenkt worden waren – neben etlichen Verstümmelten mit abgehackten Gliedmaßen und sogar Skalpierten. Nur: Welchen Schluss lassen diese Befunde überhaupt zu? Etliche der Moorleichen sind erst lange nach ihrem Ableben von monströsen Mammutpflügen zerstückelt worden. Viele Leichname wurden in ihren modrigen Grüften an Pflöcke gebunden. Diese Praxis war aber wohl weniger Teil eines Bestrafungsrituals als vielmehr Beleg für die Angst der Germanen vor Wiedergängern.
In jüngster Zeit wenden sich die Gelehrten verstärkt gegen die einst durch Tacitus inspirierte Deutung, dass es sich bei den Moorleichen entweder um germanische Kultopfer oder aber abgeurteilte Verbrecher handeln müsse. Der dänische Archäologe Morten Ravn verweigerte kürzlich in einem Aufsatz in dem Fachblatt »Acta Archaeologica« gar jede Interpretation des weitverbreiteten Phänomens. »Allein in Europa gibt es Moorleichen von Norwegen im Norden bis Kreta im Süden und von Irland im Westen bis nach Russland im Osten. Ein Material, das geografisch so weit verstreut ist, gründet nicht in einem gemeinsamen kulturellen Zusammenhang«, urteilt der Wissenschaftler.
Inzwischen gerät selbst die noch immer als Gewissheit angesehene Vorstellung ins Wanken, bei den Hochmooren habe es sich um düstere, menschenfeindliche Gebiete gehandelt, die auf Tacitus auch nur vom Hörensagen »einen widerwärtigen Eindruck« gemacht hatten. Den Forschern gilt es als wahrscheinlicher, dass die Menschen des Altertums in den Feuchtgebieten überaus fruchtbaren Boden vorfanden. Pollenfunde weisen gar auf eine vergleichsweise dichte Besiedlung hin. Die mitunter todbringenden Vertiefungen im Schlamm des Torfmoors, die sogenannten Schlenken, überwanden schon die Menschen der späten Bronzezeit mit einer massiven Konstruktion aus Holzbohlen.
Das Rätsel von Jastorf
Ein niedersächsisches Gräberfeld brachte Archäologen auf die Spur der frühen Germanen. Sie bewohnten das Armenhaus Europas.
Von Dietmar Pieper
Die germanische Frühgeschichte ist auch die Geschichte eines begabten und wissbegierigen Schülers. Gustav Schwantes, geboren 1881 in Bleckede an der Elbe, begeisterte sich als Junge für die Archäologie und wusste bald erstaunlich gut Bescheid. Mit großer Ausdauer buddelte er im Boden seiner niedersächsischen Heimat, um Zeugnisse aus der fernen Vergangenheit zu bergen. Häufig ging er in den Schulferien gemeinsam mit
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