Die Germanen: Geschichte und Mythos - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Nerthus. Als eine Art Mutter Erde besucht sie in einem Wagen die sieben Völker, von denen sie verehrt wird. Ihre Kultstätte ist ein heiliger Hain auf einer Meeresinsel. In diesem Wald steht ihre Luxuskutsche: ein prachtvoller, über vier große Räder bewegter, von einem Thron gekrönter, mit Tüchern überzogener Wagen. Am Fest der Göttin versteckt sich diese unter den Tüchern und wird von Kühen über die Insel kutschiert. Nur der Schamane darf den Wagen berühren und lenken. An diesem Tag müssen alle Waffen ruhen. Nach der heiligen Fahrt werden Wagen, Tücher und auch die Göttin in einem Moorsee irgendwo auf der Insel gereinigt. Diese Arbeit verrichten Sklaven. Sie werden anschließend im selben See ertränkt. In natura sehen dürfen die Göttin also nur Todgeweihte.
Über Nerthus, diese angeblich im Ostseeraum beheimatete Fruchtbarkeitsgöttin, sind Details nur bekannt, weil der römische Historiker Tacitus (um 58 bis um 120 nach Christus) in seiner »Germania« darüber berichtet hat. Tacitus ist für die Nerthus-Mythologie die einzige Quelle.
Für seinen Bericht sprechen immerhin die zahlreichen Räder und andere Prunkwagenteile, die von Archäologen gesichert werden konnten. Germanen des europäischen Nordens haben tatsächlich so manche Kutschenrelikte in Mooren, Seen und Flüssen versenkt – neben den ungenießbaren Teilen von Opfertieren, neben den erbeuteten Waffen des besiegten Feindes, neben Schmuckstücken und vielen anderen Dingen. Man huldigte so dem Stammesgott, wenn man einen Sieg errungen hatte.
Die Göttin Nerthus ist nach manchen Indizien für den Frühling und für das aufblühende Leben zuständig, damit auch für den Nachwuchs des Stammes. Allerdings kennt man auch die Namen etlicher weiterer Fruchtbarkeitsgöttinnen, zum Beispiel Ostara und Frija. Von friesischen und niederrheinischen Weihesteinen ist, in römischer Schrift, auch der Name der Göttin Nehalennia überliefert, einer mit Nerthus vielleicht verwandten – oder identischen? – Unterweltgottheit. Sie wurde von seefahrenden Händlern um Beistand und Reichtum angerufen. Als ihre Attribute werden Schiffsteile und Fruchtkörbe bildlich dargestellt.
Jeder der zahlreichen germanischen Stämme hat offenbar eigene Götter, die mit denen des Nachbarstammes meist verwandt, aber selten gleich sind. Die göttliche Wirrnis ist die Folge der ethnischen Vielfalt. Denn es gibt weder ein einheitliches germanisches Volk noch etwa einen germanischen Staat, also auch keinen Staatsgott wie den römischen Jupiter.
Im Lauf jener Zeiten, die vor der Christianisierung liegen, also etwa vom 5. bis zum 9. Jahrhundert, bilden sich allerdings in einem Völkerbogen, der von den Alamannen in Süddeutschland bis zu den Nordgermanen in Schweden sowie den Wikingern in Norwegen und Island reicht, immer mehr kulturelle Gemeinsamkeiten heraus. Dabei treten einige Hauptgötter an die Bühnenrampe, denen dann regional und lokal die unterschiedlichsten Stammesgottheiten und Dämonen beigesellt werden. Die ergiebigste Quelle für all diese mythischen Geschichten ist jener Sagenschatz, den etliche »Lieder« – in Versen gefasste Erzählungen – etwa seit dem 9. Jahrhundert literarisch verarbeitet haben. Die berühmteste Sammlung solcher Lieder ist die erst im 13. Jahrhundert schriftlich festgehaltene altisländische Edda.
Obwohl ursprünglich die weiblichen Erd-Urmütter in der germanischen Götterfamilie das Sagen gehabt haben sollen, werden zwei männliche Hauptgötter im Lauf der Jahrhunderte über viele Stammesgrenzen hinweg dominant: Wotan und Thor. Der mächtigste Gott ist Wotan, wie die Südgermanen ihn nennen, oder Odin in der nordgermanischen Version. Der Name Wotan ist von der Silbe »wat« abgeleitet, sie bedeutet »anfachen«, daraus entstand »wuot« und später dann »Wut« für diffuses Erregtsein. Ruhelos durchstreift Wotan/Odin, ein unheimlicher, wilder Jäger, das Land der hellhäutigen Menschen, der Riesen – Sturmriesen, Bergriesen, Wasserriesen –, der Trolle und Zwerge; er ist der wahre Herr in den schier endlosen Wäldern. Er hat nur ein Auge und befehligt zwei heulende Wölfe, die ihn auch bei der Jagd auf den ungeheuren Eber Gullinborsti unterstützen. Wotan/Odins Wölfe verschlingen die essbaren Opfergaben der Menschen, er selbst ernährt sich vom Wein. Auch Raben arbeiten für ihn: Sie berichten dem Gott, was auf der Erde so passiert. Vor allem gebietet er über sanfte oder stürmische Winde; insofern ist er ein klassischer
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