Die Germanen: Geschichte und Mythos - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Jahrhundert, wie der Mediävist Rudolf Simek vermutet. Die historische Unsicherheit wird verstärkt vom Umstand, dass es allein für Odin über 170 Zweitnamen gibt: Wenn er inkognito unter den Menschen weilt, kann er zum Beispiel Grimr heißen; als Hüter bestimmter Ahnenreihen nennt er sich Gautr. Zumindest über seinen Familienstand gibt es leidlich klare Auskunft: Odin ist mit der ewig webenden Frigg verheiratet; sie heißt auch Frija und darf nicht mit Freyr verwechselt werden, dem schwedischen Sonnen- und Fruchtbarkeitsgott. Frigg ist die germanische Venus, Göttin der Liebe. Ihr Sohn Balder (auch Baldur genannt) gilt als frühlingshaft anmutig und unverwundbar.
Die Mutter hat allen Dingen den Schwur abgenommen, Balder nicht zu verletzen. Dabei überging sie jedoch die unscheinbare Mistel. Nun machen sich die zuweilen boshaften Götter den Spaß, indem sie alle möglichen Dinge nach dem Schönling werfen. Gott Loki, der schurkische Kulturbringer und teuflische Baumeister, drückt dem blinden Hödr einen Mistelzweig in die Hand und animiert ihn, damit auf Balder zu zielen. Der fliegende Zweig verwandelt sich in einen Pfeil. Balder stirbt. Sein Leichnam wird auf einem brennenden Schiff ins Meer gestoßen.
Verehrt wird Odin, der als einziger der germanischen Götter einen Hut trägt wie sein römisches Pendant Merkur, auf mit Pfählen markierten Opferplätzen in Wäldern, an Moor und See, Fels und Quelle. Zum Beispiel in dem legendären »Heiligen Hain« der Semnonen, die zu den Nordschwaben gehören. Dieser Hain ist laut Tacitus ein Wald, der nur für Tier- oder gar Menschenopfer zugänglich ist. Wer sich in ihn hineinwagt, muss sich vorher vom Schamanen fesseln lassen; seine Trippelschritte markieren den Abstand von der Macht des Gottes. Fällt er hin, darf er sich nur wälzend aus dem Hain entfernen.
Odin kann sich erschreckend leicht verwandeln. Das zeigt beispielsweise die Geschichte vom Raub des Skaldenmets. Der berauschende Met wird anfänglich aus dem Blut des weisen Riesen Kvasir gebraut. Zwei Zwerge hatten ihn ermordet. Die Zwerge versetzen das Blut mit Honig und brauen daraus den Met. Ein Riese, der sich die Zwerge trotz alledem gefügig machen kann, lässt den Met von seiner Tochter in einer Höhle bewachen. In Gestalt einer Schlange dringt Odin zu ihr und schläft mit ihr drei Nächte, wofür er dreimal einen großen Zug vom magischen Blut-Met trinken darf. Er verwandelt sich dann in einen Adler und fliegt zurück in das Götterheim Asgard. Von dort aus verschafft Odin den Dichtern, für die er schon die Runen entzifferte, auch die inspirierende Droge, die fortan Skalden-Met heißt.
Tacitus schreibt, die Germanen hätten ihre Götter nicht »in Tempel eingeschlossen« und ihnen keine Menschenähnlichkeit gegeben. Immerhin dienten bis zu 74 Meter lange Hofhallen, die sich Fürsten oder Häuptlinge errichten ließen, wohl auch kultischen Zwecken, etwa Opfermählern, bei denen das Fleisch von Pferden, Rindern oder Schafen verzehrt und viel Met getrunken wurde; der Anteil der Götter – Fell, Kopf und Knochen des Tieres – versank im Moorteich. Diese Hallen aus Holz und Lehm könnten also als Tempel fungiert haben. Allerdings sind es vergrößerte Bauernhäuser, keine Gotteshäuser im klassischen Sinn.
Nicht ganz richtig ist auch die Sache mit der fehlenden Menschenähnlichkeit. Jenes hölzerne Figurenpaar, das 1946 in Braak bei Eutin (Schleswig-Holstein) gefunden wurde, hat sogar sorgfältig geschnitzte Gesichtszüge. Die größere der beiden Gestalten ragt 2,75 Meter hoch. Sehr wahrscheinlich sind hier Götter verkörpert; welche, weiß man allerdings nicht. In der germanischen Frühzeit, zu der das Paar gehört, werden die übermenschlichen Mächte zumeist in der Mehrzahl beschworen. Dazu passt, dass das urgermanische Wort für Gott, »ans« und »Ase«, meist im Plural verwendet wird: »Asen«. Die Wortwurzel »ans« heißt »Balken, Pfosten« – die Brücke zu den verehrten hölzernen Idolen.
Auch von heiligen »weißglänzenden« Rossen hat Tacitus gehört, aus deren Wiehern und Schnauben die germanischen Priester auf die Zukunft schließen. Diese und andere Tiergötter verweisen auf den Totemismus, der bei etlichen Naturvölkern vorkommt. Ein Stamm bindet seine Identität an eine Schutzmacht, die von einem heiligen Tier verkörpert wird – von einem Totemtier. Die Germanen kennen als Totemtier auch den Eber. Denkbar also, dass der schon von Cäsar genannte Stamm der Eburonen sich als
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