Die Germanen: Geschichte und Mythos - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
auf dem Gelände noch ein weiteres ungewöhnliches Haus: eine große Halle, in der weder Vieh steht noch handwerklich gearbeitet wird. Wozu dient sie dann? Empfangen die Menschen der Feddersen Wierde hier Gäste aus anderen Dörfern? Halten sie hier ihren Dorfrat ab? Wird hier gefeiert und getanzt? Jedenfalls ist ihnen diese Halle so wichtig, dass sie das Gebäude noch einmal mit einem eigenen kleinen Deich schützen.
Im 3. Jahrhundert weitet das Dorf sich nach Norden aus. Auf dem neuen Land entstehen weitere Werkstätten. Wo die bisherigen standen, werden Vorratsspeicher gebaut. Ein zweites Hallenhaus kommt hinzu, außerdem ein offener Platz vor der Versammlungshalle. Auf diesem Platz steht eine Tränke – möglicherweise wurde hier Viehmarkt abgehalten. Kamen nun auch Menschen von weiter her auf die Feddersen Wierde, um mit den Bewohnern Handel zu treiben? Falls das stimmt, fand der Markt jedenfalls direkt vor der Haustür des großen Herrenhofes statt.
Der Reichtum dieser Familie ist auch nicht mehr nur an der Stalllänge abzulesen; das Innere des Hauses ist ebenfalls prächtig ausgestattet. Wer in das Haus hinein durfte, konnte die aufwendig verzierte Feuerstelle des Hauses bewundern. Unter der Feuerstelle war ein Opfertier, ein Schwein, deponiert worden. Unbekannt freilich ist, welchen Titel der Hausherr trug. War er lediglich Dorfvorsteher? Oder hatte er das Sagen über ein größeres Gebiet, etwa mehrere Dörfer? Spielte er gar eine Rolle in der Leitung seines Stammes, der Chauken, die zu beiden Seiten der unteren Weser siedelten? Hatten seine Vorfahren auf der Seite von Arminius in der Varusschlacht gekämpft? Bezog er – was archäologisch auch nur schwer nachzuweisen wäre – seine Einkünfte gar nicht nur aus dem Ackerbau und der Viehwirtschaft, sondern ebenfalls, wie einige historische Quellen den Chauken nachsagen, aus der Seeräuberei?
Seinem Dorf jedenfalls ging es gut. Im 3. Jahrhundert standen 26 Betriebe auf der Wurt, bevölkert von wahrscheinlich rund 300 Menschen, die 450 Stück Großvieh besaßen. Doch allmählich änderten sich die Aktivitäten der Dorfbewohner. Statt ihre Rinder im Sommer zum Grasen auf die Prielränder zu schicken und den Kleiboden zu bewirtschaften, verdienten sie ihren Unterhalt zunehmend als Handwerker und Händler. Im 4. Jahrhundert wurden nur noch 240 Stück Großvieh auf der Feddersen Wierde gehalten. Von allen Wohnstallhäusern hatte lediglich der Herrenhof noch ebenso viele Stallplätze für Rinder wie zuvor. Aus den ehemaligen Bauern waren feine Herrschaften geworden. Sie aßen ihr Essen mittlerweile aus Schüsseln, die aus dem großen Römischen Reich in die kleine Ansiedlung gekommen waren. Die Römer indes nannten sie nicht mehr Chauken, sondern bezeichneten sie zusammen mit weiteren Stämmen der Region nun als Sachsen.
Um das Jahr 450 nach Christus dann packten die Bewohner der Feddersen Wierde ihr Hab und Gut zusammen. Vielleicht war es ein Befehl, den der Herr des Haupthofes an seinem prächtig verzierten Herdfeuer aussprach. Vielleicht war es ein Beschluss, den alle Bewohner gemeinsam in der Versammlungshalle diskutiert hatten. Vielleicht war es auch der Erlass eines weiter entfernt lebenden Stammesführers, dem man sich fügte. »Go west, young man, go west!«, hieß er. Die Sachsen, und mit ihnen die Bewohner der Feddersen Wierde, machten sich auf nach Britannien.
Ein weiteres großes Geheimnis hat die Marsch noch nicht preisgegeben: Wo sind all die Toten hin? Tausende müssen es gewesen sein, die im Laufe der Jahrhunderte auf der Wurt lebten und starben. Doch ihre Gebeine sind spurlos verschwunden, außer von ganz wenigen, die bei den Häusern bestattet wurden. Eines dieser Gräber liegt am Rande des Herrenhofes. Die Knochen wurden in einem kleinen Totenhaus bestattet, direkt über der Leiche eines Pferdes. Welche Ereignisse, welche Entschlüsse, die er zu Lebzeiten fasste, machten den Verstorbenen so wichtig, dass die Menschen ihn auch nach seinem Tod dicht bei sich haben wollten? Das verraten die Funde nicht. Friedhöfe anderer Siedlungen erzählen mehr über die Totenbräuche und damit auch über das Leben der Germanen. Dabei stellte sich bald heraus: Tacitus hatte keine Ahnung.
Die Germanen seien Menschen mit »ungeheuren Körpern« gewesen, schrieb der römische Historiker. Ganz so war es nicht: »Die anthropologische Untersuchung der Leichenbrände und Skelette zeigt keineswegs, dass Germanen besonders groß waren«, widerspricht Archäologe
Weitere Kostenlose Bücher