Die Germanen: Geschichte und Mythos - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
seinem Bruder Curt auf archäologische Schatzsuche. 1897 bekamen die Brüder Schwantes den Hinweis, dass auf einem Heidefeld nördlich der Ortschaft Jastorf zahlreiche Grabgefäße im Sand lägen. Für den damals 16 Jahre alten Gustav wurden die Urnen von Jastorf zu einem Lebensthema. Denn der junge Forscher und spätere Professor, der nach wie vor zu den Großen seines Fachs zählt, kam durch diesen Fund zu einer wichtigen Erkenntnis. Es war Gustav Schwantes, der für eine ganze Ära den Namen Jastorf-Kultur prägte, einen Begriff, der bald allgemein anerkannt wurde und bis heute gültig ist.
Mit der Jastorf-Kultur brach um 600 vor Christus ein neues Zeitalter an, in dem viele Wissenschaftler den ersten nachweislichen Auftritt der Germanen sehen. Die Umwälzung fand statt in einem Gebiet, das große Teile Norddeutschlands umfasst und hinauf bis ins dänische Jütland reicht. In diesem geografischen Raum ging damals die Bronzezeit zu Ende; die Eisenzeit begann. Die Menschen erlernten nach und nach die komplexe Technik der Verhüttung, um aus Erzbrocken das harte Metall für Werkzeug, Schmuck und Waffen zu gewinnen.
Warum ist nun ausgerechnet ein Gräberfeld im niedersächsischen Flachland zwischen Uelzen und Lüneburg so bedeutend? Um das zu verstehen, muss man tiefer eintauchen in die Welt der Frühgeschichte – ein eigenartiges Reich voller Fachausdrücke, Geheimnisse, Forschungslücken und Widersprüche.
Der Archäologe Gustav Schwantes
(Foto, um 1935) skizzierte die
bedeutende Fundstelle bei Jastorf
In dieser Welt spielen kleine Gegenstände eine große Rolle. Für Laien sind die meisten archäologischen Funde nichtssagend, aber von den Wissenschaftlern werden sie hingebungsvoll untersucht, klassifiziert und interpretiert. Im Fall der jahrtausendealten Jastorf-Kultur sind es Schmucknadeln, Gewandfibeln und Urnen aus gebranntem Lehm, die als zentrale Beweisstücke in einer verwickelten Indizienkette gelten. Dass die Frühgeschichte der Germanen nicht einfacher und anschaulicher zu haben ist, liegt vor allem an den Menschen der damaligen Zeit. Aus den Jahrhunderten vor Christi Geburt haben die Vorfahren der Goten, Sachsen und Franken keine schriftlichen Quellen hinterlassen, keine stattlichen Gebäude, keine genialen Kunstwerke. Wie Detektive müssen die Forscher versuchen, aus den spärlichen Spuren, die heute noch übrig sind, Bruchstücke von Geschichten herauszulesen. Für eine durchgehende Erzählung reicht das Material bisher nicht.
Auf einem ganz anderen Weg versuchen Sprachwissenschaftler, Licht in die Vergangenheit zu bringen. Aus den heutigen Sprachen und den frühesten schriftlichen Quellen wie der gotischen Wulfilabibel leiten sie mit scharfsinniger Kombinatorik ab, wie die Menschen früher gesprochen haben könnten. Die Linguisten haben herausgefunden, welche Sprachen miteinander verwandt sind und nach welchen Gesetzmäßigkeiten sich Aussprache und Grammatik im Lauf der Zeit verändert haben.
So sind seit dem 18. Jahrhundert Monumente der Gelehrsamkeit entstanden, in deren Detailreichtum man sich hoffnungslos verlieren kann. Bei allen Rätseln, die noch übrig sind, gilt die große Linie als gesichert: Aus den gemeinsamen Anfängen der indogermanischen Sprachfamilie, zu der auch Griechisch, Persisch oder Sanskrit gehören, hat sich im Zuge der ersten oder germanischen Lautverschiebung eine Art Urgermanisch entwickelt. Und weil ein gesprochenes Idiom immerzu im Fluss ist, gingen daraus dann im Lauf der Jahrhunderte Deutsch, Englisch und andere heutige Sprachen hervor (siehe Seite 76).
Meister ihres Fachs haben es gelegentlich sogar gewagt, in rekonstruierten Sprachen zu fabulieren. Auf den Indogermanisten August Schleicher (1821 bis 1868) geht die kleine Fabel »Das Schaf und die Pferde« zurück, von der es inzwischen zahlreiche Fassungen gibt. So hat der Münchner Sprachwissenschaftler Wolfram Euler 2007 versucht, den Sprachstand der Zeit um Christi Geburt zu erschließen: »Awis, þazmai wullô ne wase, eχwanz gasáχ, ainan kurun waganan wegandun, anþeran mekelôn burþînun, þriđjanôn gumanun berandun.« Soll heißen: »Ein Schaf, das keine Wolle hatte, sah Pferde; das eine, das einen schweren Wagen zog, das andere, das eine große Last trug, und das dritte, das einen Menschen trug.« Wörter wie »wullô« und »waganan« erschließen sich hier sofort, das Übrige ist schwieriger.
Zurück zu dem 16 Jahre alten Schüler Gustav Schwantes, der ein leidenschaftlicher Ausgräber war
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