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Die Germanen: Geschichte und Mythos - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Die Germanen: Geschichte und Mythos - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Titel: Die Germanen: Geschichte und Mythos - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert F. Pötzl
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und außerdem ein gründlicher Denker. In den Urnen von Jastorf und ähnlichen Gräberfeldern lag nicht nur die Asche der verbrannten Leichen. Die Hinterbliebenen hatten den Toten oft auch einige Beigaben gegönnt, vor allem verzierte Gewandnadeln und Gürtelschnallen aus Bronze oder Eisen. Interessant waren vor allem die Eisenfunde. So weit nach Norden war dieses Metall bis dahin nur selten vorgedrungen. Der junge Forscher quälte sich also mit der Frage: Woher kam das Eisen?
    Als bedeutende Autorität auf dem Gebiet der nordischen Frühgeschichte galt Ende des 19. Jahrhunderts Ingvald Undset, ein Norweger. Auf Reisen quer durch Europa war Undset den Spuren des Eisens gefolgt, um herauszufinden, wie sich die Kultur auf dem Kontinent in den dunklen Zeiten vor der Römerherrschaft entwickelt hatte.
    Für Undset und andere Forscher begann die Eisenzeit in Mitteleuropa mit der sogenannten Hallstatt-Kultur, benannt nach einem Ort im österreichischen Salzkammergut. Dort hatte man 1846 ein großes Gräberfeld mit reichen Beigaben entdeckt, und bis heute ist die Hallstatt-Zeit eine feste Größe in der Wissenschaft. Sie dauerte ungefähr von 800 bis 475 vor Christus und erstreckte sich von Slowenien bis Frankreich. Über die damaligen Menschen ist wenig bekannt, die Hallstatt-Leute werden ab etwa 650 vor Christus häufig als Kelten bezeichnet. Im 5. vorchristlichen Jahrhundert ging die Hallstatt- in die Latène-Kultur über, auch das gehört bis heute zum gesicherten Wissensstand. Ihren Namen hat sie vom Fundplatz La Tène am Neuenburgersee in der Schweiz. Die Latène-Menschen waren ebenfalls Kelten.
    Durch seine Lektüre und Gespräche mit Fachleuten war der junge Gustav Schwantes schon gut im Bilde über die Forschungslage. Aber eines konnte er nicht verstehen: Wieso ordnete der große Gelehrte aus Norwegen bestimmte Fundstücke aus Norddeutschland der Latène-Kultur zu, obwohl sie so ganz anders gestaltet waren als die keltischen Artefakte? Das, was Schwantes selbst gemeinsam mit seinem Bruder aus der Erde gebuddelt hatte, sah aus wie einige Beispiele aus Undsets Büchern. Aber Latène? Andererseits schien Undset sich zu widersprechen, deutete er doch die Form der hochhalsigen Urnen, wie sie auch bei Jastorf im Boden lagen, als Import aus einer älteren Epoche, nämlich aus der Hallstatt-Zeit. Es war zum Verrücktwerden.
    Schwantes notierte später: »Anzunehmen, dass hier vielleicht ein Irrtum des verehrten Mannes vorliege, lag meinem damaligen Denken völlig fern.« Doch die Frage nagte weiter an ihm, jahrelang: »Sind die Jastorfer Sachen wirklich keltisch?«
    An einem Abend des Jahres 1899 saß der junge Forscher wieder einmal »in den ehrwürdigen Räumen der alten Hamburgischen Stadtbibliothek«, die, wie er als Erwachsener dankbar festhielt, »für meine wissenschaftliche Entwicklung von der größten Bedeutung wurde«. Im neuesten Band des »Archivs für Anthropologie« las Schwantes einen Beitrag der Wissenschaftlerin Johanna Mestorf. Die Direktorin des Kieler Museums vaterländischer Alterthümer machte sich darin Gedanken über die Anfänge der Eisenzeit in Schleswig-Holstein. Mestorf legte dar, wie Schwantes schrieb, »dass nicht Latène, sondern Hallstatt uns das Eisen brachte«.
    Wer sich einigermaßen in den Forschungsstand hineingedacht hat, kann jetzt vielleicht nachvollziehen, was in dem aufstrebenden Archäologen vorging: »Von geradezu ungeheurer Bedeutung« war die Lektüre für ihn. »In mir geriet alles in eine kochende und brodelnde Aufregung, und aus dem Wirbel der Gedanken trat schließlich die Erkenntnis hervor: Da hast du endlich die Lösung des Rätsels von Jastorf!«
    In den Weihnachtsferien schrieb der Schüler einen langen Brief an Johanna Mestorf, eine der wenigen deutschen Frauen im 19. Jahrhundert, die als wissenschaftliche Koryphäen anerkannt wurden. Noch war ihr allerdings der Professorentitel nicht zugebilligt worden, was Schwantes in Verlegenheit stürzte. »Die Dame schlichthin mit Fräulein Mestorf anzureden, schien mir eine Ungehörigkeit zu sein.« Schließlich begann er sein Schreiben mit der Anrede »Euer Autorität«. Die Autorität erwies sich als aufgeschlossen und freundlich. Schon nach wenigen Tagen kam eine Antwortkarte, kurz darauf ein ausführlicher Brief, in dem Mestorf die Vermutungen bestätigte. Zusammenfassend schrieb Schwantes später über die von ihm benannte und gründlich erforschte Jastorf-Kultur: Sie »ist der Stil der ersten mittel- und nordeuropäischen

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