Die Germanen: Geschichte und Mythos - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Thorsten Oltmer
Irgendwann um das Jahr 120 vor Christus müssen sie aufgebrochen sein aus ihrer Heimat im heutigen Jütland und Schleswig-Holstein. Zwischen Elbe und Oder wandern Kimbern, Teutonen und Ambronen südwärts, auf der Suche nach Siedlungsland. Warum die germanischen Stämme mit Sack und Pack aufbrechen? Ob eine verheerende Sturmflut sie vertreibt, Missernten oder ein hoher Bevölkerungsdruck – das hat nie jemand genau ermittelt. Kein alltäglicher Fall immerhin, dass Zehntausende von Kriegern samt Frauen, Alten und Kindern sich mit Vieh und Karren auf Wanderschaft begeben.
Dort, wo Geschichte aufgezeichnet wird, im Römischen Reich, weiß man von dem Aufbruch vorerst nichts: Was östlich des Rheins liegt, ist terra incognita, ein weißer Fleck. Nur Andeutungen über die dort siedelnden Menschen gibt es, Gerüchte von wilden Stämmen in nebligen, feuchtkalten Wäldern. Erst etwa 113 erfährt Rom von dem gewaltigen Zug. In den Ostalpen leben die Noriker, Verbündete und Handelspartner der selbstbewussten Lateiner im Süden. Als die Germanen in Scharen plündernd in ihr Gebiet einfallen, rufen die Noriker Rom zu Hilfe. Konsul Papirius Carbo steht mit einem Heer in der Nähe. Er lässt die Alpenpässe sperren, weist die Bitten der Invasoren nach Siedlungsland brüsk zurück, sichert ihnen jedoch freies Geleit zu. Tatsächlich aber will Carbo die Eindringlinge dauerhaft loswerden. Obwohl die Germanen in Ruhe abziehen, befiehlt er einen Angriff.
Diese Hinterlist müssen die Römer teuer bezahlen. Bei Noreia, das wohl in Kärnten oder in der Steiermark lag, erleiden sie ihre erste Niederlage gegen germanische Stämme. Über 250 Jahre später meldet der Historiker Appian: »Carbo zog im Eilmarsch zum Standort der Teutonen und griff sie während ihrer Rast überraschend an; er büßte indes schwer für seinen Wortbruch und erlitt hohe Verluste. Vielleicht hätte er sogar alle Truppen verloren, wenn nicht während der Schlacht Finsternis eingetreten wäre und ein schweres Gewitter die Heere getrennt hätte. Die Römer sammelten sich mit Mühe erst am dritten Tag.« In der Hauptstadt ist der Senat alarmiert. Gewöhnlich schließt man mit unterworfenen Stämmen Freundschafts- und Beistandsabkommen ab und schafft so »Pufferstaaten«. Nun ist dieses Sicherheitsvorfeld massiv bedroht.
Aber die Eindringlinge zieht es noch nicht über die Alpen. Sie wandern im Gebirgsvorland nach Westen und überqueren den Oberrhein. Hier an der Burgundischen Pforte ist das Tor nach Gallien weit offen. Um 111 stehen damit zum ersten Mal größere Germanentrupps westlich des Rheins und bedrohen römisches Gebiet: die neue Provinz Gallia Narbonensis, die Italien mit Roms spanischen Provinzen verbindet. Es sind also wichtige territoriale Interessen zu verteidigen. Der Konsul Marcus Junius Silanus ist Roms Statthalter vor Ort. Zu ihm kommen Häuptlinge der Kimbern und Teutonen und bitten um Erlaubnis, sich auf den fruchtbaren Böden ansiedeln zu dürfen. Silanus kann nicht über das Gesuch entscheiden – so etwas ist Sache des Senats. Er schickt die Delegation nach Rom.
Die »legati Cimbrorum«, wie der augusteische Historiker Livius sie nennt, sind wohl die ersten »Barbaren« in der Metropole des Römischen Imperiums. Aber der Senat lehnt das Gesuch ab. Nun stehen die Zeichen auf Krieg. Wahrscheinlich westlich von Lugdunum, dem heutigen Lyon, kommt es im Jahr 109 zur zweiten großen Auseinandersetzung. Wie Carbo vier Jahre zuvor erleidet auch Silanus eine schmachvolle Niederlage. Historiker erklären das Versagen der römischen Heerführer mit Unerfahrenheit und Ignoranz. Sie unterschätzen die kampferprobten und gut geführten Germanen gewaltig.
Vor dem nächsten Zusammenprall wappnet sich Rom darum besonders sorgfältig. Man kennt jetzt die Gefährlichkeit der Eindringlinge und bietet ein großes Heer auf. Befehligt wird es gleich von beiden Konsuln: Quintus Servilius Caepio und Gnaeus Mallius Maximus führen die Legionen – keine gute Idee.
Caepio hat sich in Lusitanien hervorgetan und es bis zum Statthalter der Provinz gebracht. Er blickt herab auf den Emporkömmling Maximus, diesen »homo novus«, der als erster seiner Familie ein hohes Amt bekleidet. Bei Arausio, dem heutigen Orange in der Provence, kommt es am 6. Oktober 105 zur Schlacht. Die Römer lagern getrennt an beiden Ufern der Rhône. Gegen eine Streitmacht, wie sie die Kimbern unter ihrem erfahrenen König Boiorix aufbieten, wäre es dringend geboten, die Truppen
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