Die Germanen: Geschichte und Mythos - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Bevölkerung zu gewinnen. Sechs Tagesfahrten nördlich von Britannien, in der Nähe des »geronnenen Meers«, erreicht er schließlich die Insel Thule, nach heutigen Vermutungen vielleicht eine der Shetlandinseln oder Norwegen: »Ein weites Land und an Obst ertragreich«, in dem seltsamerweise keiner in dauerhafter Ehe lebe, notiert er.
Hier macht der Entdecker offenbar kehrt. Vielleicht hält er Thule schon für das Ende der Welt; vielleicht zieht es ihn nach dem monatelangen Törn durch Nebel und Treibeis aber auch einfach wieder zurück in die Heimat. Seine nächste Station liegt jedenfalls viel weiter südlich: eine an einer großen Flussmündung gelegene Insel namens Abalus. Pytheas berichtet, dass dort im Frühjahr Bernstein angeschwemmt werde. Die Bewohner benutzten ihn statt Holz zum Anfeuern und verkauften ihn an ihre Nachbarn, die Teutonen.
Fachleute sind sich inzwischen relativ einig, dass es sich bei dem Fluss um die Elbe und bei der Insel um Helgoland handelt. Die Menschen, die Pytheas beschreibt, können also durchaus Vorfahren jener Barbarenhorden gewesen sein, die 200 Jahre später gen Süden aufbrechen und das Römische Weltreich mit Attacken in Panik versetzen werden.
Als triebgesteuerte Wüstlinge werden die Eindringlinge von den Zeitgenossen beschrieben, zum Beispiel vom Historiker Diodor (siehe Seite 112). Von solchen Zuschreibungen ist bei Pytheas jedoch noch nichts zu finden. Überhaupt scheint er, nach den wenigen erhaltenen Passagen zu schließen, hauptsächlich von den Naturphänomenen und Rohstoffen des Nordens, nicht von den Menschen berichtet zu haben. Das mag mit dem selbstbezogenen Weltbild der alten Griechen zu tun haben: Was irgendwelche Barbaren weit, weit entfernt in ihren Sümpfen treiben, ist den meisten egal.
Die Gleichgültigkeit schwindet rasch, als die Nordvölker beginnen, in die Grenzregionen des antiken Herrschaftsbereichs einzufallen. Ende des 3. Jahrhunderts vor Christus zieht der indogermanische Stamm der Bastarner aus der südlichen Elbregion in das Gebiet nördlich des Donaudeltas. Gemeinsam mit anderen Nordvölkern greifen sie die griechische Polis Olbia nördlich des Schwarzen Meeres an und wirken dabei so fremdartig und roh, dass selbst die lokalen Barbarenstämme in Furcht geraten.
Philipp V ., König von Makedonien, schickt trotzdem Gesandte zu den Eindringlingen: Im Zweiten Makedonischen Krieg gegen die Römer hat er große Verluste hinnehmen müssen; nun sucht er neue Verbündete. Tatsächlich willigen die Bastarner ein, sich in Dardanien, etwa der Gegend des heutigen Kosovo, niederzulassen. Für die Makedonier, schreibt der Historiker Polybios, könnte sich so ein doppelter Vorteil ergeben, indem »die Dardaner, ein Volk, das gegenüber Makedonien immer sehr feindlich war, beseitigt würden«, während »die Bastarner ihre Frauen und Kinder in Dardanien zurückließen und nach Italien ausgeschickt werden könnten, um es zu verwüsten«.
Doch so weit kommt es nicht. Philipp V. stirbt, bevor die Bastarner ihre neue Heimat erreichen, und das macht schon die Weiterreise zum Problem. Philipp hatte mit den Thrakern vereinbart, dass sie die Bastarner, für deren Wohlverhalten er sich verbürgte, friedlich durch ihr Gebiet ziehen lassen und sie mit Lebensmitteln versorgen sollten. Da der König nun tot ist, fühlen sich weder Thraker noch Bastarner an die Vereinbarungen gebunden. Prompt bricht zwischen den beiden Völkern Krieg aus. Allerdings können sich die Bastarner auf keine Strategie einigen, so dass ein Großteil von ihnen wieder umkehrt. Nur etwa 30000 Bastarner fallen um 175 vor Christus in Dardanien ein. Die hätte Philipps Sohn und Nachfolger Perseus durchaus als Söldner verpflichten können. Doch er weigert sich, den Sold im Voraus zu zahlen – laut Polybios aus krankhaftem Geiz. Als Perseus sein Handeln vor dem makedonischen Rat verteidigt, klingt das freilich anders: Die Krieger aus dem Norden, argumentiert er, seien nun mal treulose Gesellen, denen man nicht über den Weg trauen dürfe. Die Bastarner ziehen sich daraufhin zurück und verwüsten auf dem Heimweg Thrakien.
Nach diesem Intermezzo haben sie ihr Image als marodierende Nomaden weg. Doch noch immer werden die Barbaren aus den Nordgegenden pauschal als Kelten bezeichnet. Dass es nördlich der Donau auch andere Stämme geben muss und dass man diese als Verhandlungspartner ernst nehmen sollte, wird Griechen wie Römern erst ein halbes Jahrhundert später klar.
Im Jahr 113 vor Christus
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