Die Germanen: Geschichte und Mythos - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
gelangen dann erste Nachrichten an den Senat in Rom, dass wandernde Barbaren an der Nordgrenze für Unruhe sorgten. Rasch entwickelt sich daraus eine existentielle Bedrohung für das Imperium: Die Kimbern, Teutonen und Ambronen halten das sonst so stolze Rom ein volles Jahrzehnt in Atem, bis der Spuk nach furchtbaren Blutopfern beendet ist.
Vor allem die rohe Gewalt der Eindringlinge traumatisiert die Römer zutiefst. »Die Kleidung wurde zerrissen und verschmäht«, berichtet noch der spätantike Historiker Orosius, »Gold und Silber in den Fluss geworfen, die Panzer der Männer zerstückelt, der Brustschmuck der Pferde zerstört, die Pferde selbst in den Strudeln ertränkt, die Menschen mit Stricken um den Hals an Bäumen aufgehängt, so dass der Sieger keine Beute, der Besiegte kein Mitleid erhielt.« Für die Römer kommen diese Völkermassen buchstäblich aus dem Nichts, »wie eine Wetterwolke«, schreibt um das Jahr 100 der vielseitig belesene Plutarch. Natürlich ist zumindest den Gelehrten bekannt, was Pytheas 200 Jahre früher über die exotischen Zustände am Nordrand der Welt geschrieben hat. Doch bei vielen gilt er als Scharlatan.
Eine Ausnahme ist der griechische Universalgelehrte Poseidonios. Als ihn die Nachricht von den schweren Kämpfen der Römer mit den Barbarenvölkern erreicht, treibt er in Athen gerade Vorstudien für eine große Forschungsreise gen Westen. Wie kein anderer seiner Zeit wird er in den folgenden Jahren die rätselhaften Fremden und ihre Herkunft erforschen, Augenzeugen und Kriegsgefangene der Kämpfe vernehmen, die Schlachtfelder besuchen und sogar den Retter Roms, Gaius Marius, persönlich treffen. Mit dessen siegreichen Schlachten bei Aquae Sextiae und Vercellae hatten die Römer eine Vorhut der gefürchteten Nordvölker ausgelöscht. Doch die Angst vor den wilden Nachbarn wird sie noch jahrhundertelang beherrschen – und damit auch der Wunsch, mehr über sie zu erfahren. Man will endlich begreifen, was die Fremden so stark macht und wie man sie trotzdem bezwingen könnte.
Poseidonios ist der Erste, der den Wissensdurst stillt. Mit Hilfe einer ausgeklügelten »Klimalehre« versucht der rastlose Feldforscher zu erklären, weshalb die Barbaren erst so erfolgreich gegen die Römer kämpften und Jahre später so jämmerlich scheiterten. Je kälter eine Gegend sei, mutmaßt der Gelehrte, desto schlechter könne Feuchtigkeit verdunsten. Die Menschen im Norden würden deshalb größer und stärker, ihre Stimmen tiefer; wegen des Überflusses an Blut seien sie wagemutiger. Kälte führe jedoch auch zu geistiger Trägheit. Deshalb seien die Kimbern und Teutonen während ihrer ersten Schlachten mit den Römern zwar mutig, aber planlos in den Kampf gestürzt. Weil sie nach den ersten Siegen einige Zeit in Mittelmeernähe gelebt und sich dort an Wein, Brot und gekochtem Fleisch statt an Haferbrei gelabt hätten, sei ihre barbarische Härte zudem geschwunden. So hätten die Römer, als Bewohner der mittleren Klimazone gleichermaßen begabt mit Mut und Verstand, sie am Ende förmlich vom Schlachtfeld fegen können.
Doch so detailliert Poseidonios die Fremden erforscht, auch für ihn gibt es noch keine »Germanen« als Volksgruppe. Nördlich der Alpen leben seiner Vorstellung nach nur Kelten und Skythen. Einzig einen kleinen Stamm am Oberrhein bezeichnet er als »Germanen«. Die seien besonders wilde Kelten; schon zur Mittagszeit verdrückten sie »gliedweise gebratenes Fleisch« und ungemischten Wein. Da Poseidonios selbst kaum so weit nördlich unterwegs gewesen sein wird, stammen die Informationen wohl von keltischen Händlern.
Noch drei Jahrzehnte müssen vergehen, bis der römische Feldherr Gaius Julius Cäsar die rechtsrheinischen Völker endlich zum ersten Mal »Germanen« nennt und klar von den linksrheinischen Kelten unterscheidet. Zwischen 58 und 50 vor Christus hat der ehrgeizige Römer ganz Gallien unterworfen, die Germanen über den Rhein zurückgedrängt und den Fluss dabei zweimal mit seinen Truppen überschritten. Um seinen Zeitgenossen plausibel zu machen, warum er mit seinen Eroberungen jedoch just am Rhein aufhört, muss er die Welt jenseits des Flusses als so fremdartig schildern, dass eine Abgrenzung logisch erscheint.
In seinem Bericht über den Gallischen Krieg beschreibt er die rechtsrheinischen Völker denn auch als deutlich wilder und freiheitsliebender als die Kelten, die der enge Kontakt zum Imperium schon zivilisiert und verweichlicht habe. Die Germanen
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