Die Germanen: Geschichte und Mythos - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Jahrhunderte später, sind sie geachtet. Sogar in Rom.
Die Beschreibung des Gotenkönigs in Sidonius’ Brief ist sicherlich überzogen. Huldigungslob war damals nicht nur Sitte, Sidonius hätte sich auch gar kein kritisches Wort erlauben dürfen. Denn der Vater des Empfängers war der weströmische Kaiser Avitus. Der hatte einst in Toulouse ebendiesem Theoderich die Dichtkunst Vergils und die Feinheiten des römischen Rechts nahegebracht. Seitdem waren der gotische Schüler und sein römischer Lehrmeister befreundet; Theoderich hatte kräftig mitgeholfen, dass Avitus auf den Cäsarenthron kam. Und doch zeigt der Brief über alle Stilistik hinaus, wie dramatisch sich Europa verändert hatte.
Mit den Reichsgründungen im südwestfranzösischen Toulouse (lateinisch Tolosa, daher »Tolosanisches Reich«; 418 bis 507) und danach im spanischen Toledo (»Toledanisches Reich«; 526 bis 711) war ein neuer Machtfaktor entstanden; aus einem Verband räuberischer Krieger war ein originärer westgotischer Staat entstanden. Dabei hatten die Westgoten keine Heimat mehr, die ein Wir-Gefühl hätte stützen können. Wo immer sie sich niederließen, stellten sie zwar die herrschende Kaste, aber als winzige Minderheit, oft unter fünf Prozent der Bevölkerung. Und doch zeichneten sich jetzt, erstmals »in einem der Nachfolgestaaten des westlichen Imperiums Ansätze für die Bildung einer Nation« ab, schreibt der Bonner Historiker Gerd Kampers. Er spricht von »ebenso charakteristischen wie schicksalsträchtigen Phänomenen für den weiteren Verlauf der europäischen Geschichte«.
Ein neues Zusammengehörigkeitsgefühl verband die Goten und die Alt-Bürger des südwestfranzösischen wie des späteren iberischen Königreiches – von Historikern »Romanen« oder »Provinzialrömer« genannt. Franzosen und Spanier gab es ja noch nicht; die Mehrheit der heimischen Bevölkerung lebte zuvor unter römischer Provinzialverwaltung. »In diesem mehr als zwei Jahrhunderte währenden Transformationsprozess entwickelte sich eine neue, poströmische Staats- und Gesellschaftsordnung«, schreibt Kampers, »zu der Goten und Römer, die in den Quellen seit Mitte des 7. Jahrhunderts als einheitliches Staatsvolk des Regnum Gotorum erscheinen, ihren Beitrag leisteten.«
Unter gotischer Herrschaft konnten die Romanen Spitzenposten in der staatlichen Verwaltung übernehmen. Anders als die Goten brauchten sie keinen Militärdienst zu leisten, durften aber freiwillig im Heer dienen und konnten dort höchste Ränge besetzen. Sie mussten Steuern zahlen, aber weniger als zu römischer Zeit. Nach und nach wurden sie auch rechtlich gleichgestellt. Das bis dahin an die Volkszugehörigkeit gebundene ethnische Recht wurde überlagert vom Territorialprinzip – ein weiterer Schritt hin zum »modernen« Staat.
Freilich fehlten auch die typischen negativen Begleiterscheinungen nicht: Das eigene Volkstum und das »Vaterland« wurden verherrlicht, »die anderen« – ob Gallier, Franken oder Oströmer – zu Menschen zweiter Klasse erklärt. Auch innerhalb der Gemeinschaft wuchsen neue Grenzen: Der einstige Verband freier Krieger entwickelte sich zur geschichteten Gesellschaft mit Adligen und Sklaven, Reichen und Armen. Der Wert eines jeden wurde neu bemessen. Wer etwa einen Adligen tötete, musste zusätzlich zur Strafe 500 Solidi zahlen – für den erschlagenen Feld- oder Haussklaven betrug die Geldbuße nur 20 Solidi.
Mit dem Einzug all dieser Neuerungen ging viel ehedem »Gotisches« verloren: Die traditionelle Pelzkleidung, die berühmt-berüchtigten Ess- und Saufgelage, selbst die gotische Sprache verschwanden von der Mitte des 6. Jahrhunderts an, ohne viele Spuren zu hinterlassen. Dabei hatte der Mönch Wulfila erst Mitte des 4. Jahrhunderts eine gotische Schrift erfunden, ein Gemisch aus Griechisch, Latein und germanischen Runen (»atta unsar þu in himinam«, beginnt bei ihm zum Beispiel das Vaterunser) und damit die ersten Bibeltexte in eine germanische Sprache übertragen. Vorbei, vergessen. Der Gote lernte nun lieber die Weltsprache Latein.
Als trennendes, hinderliches Relikt im Prozess der Nationenbildung erwies sich lange Zeit die Religion. Zwar waren die Goten seit Ende des 4. Jahrhunderts Christen – aber nach arianischem Bekenntnis. So wollten sie nicht an die Dreieinigkeit von Gottvater, Sohn und Heiligem Geist glauben und galten damit für die römischen Katholiken als Irrgläubige, ja Ketzer. Erfolglos bemühte sich die gotisch-arianische
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