Die Germanen: Geschichte und Mythos - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
ostwärts, tiefer ins südliche Russland, die anderen siedelten westlicher, dort wo die Donau ins Schwarze Meer mündet. So handelten sie sich auch ihre heutigen Namen ein: Ost- und Westgoten. Vermutlich war dafür bloß eine falsche Übersetzung des Geschichtsschreibers Cassiodor verantwortlich. Die einen nannten sich nämlich »Ostro«, was »glänzend« meinte. Die anderen präsentierten sich als »Vese« oder »Visi«, also »edel« oder »gut«. Doch Cassiodor, vielleicht vom Wortklang geleitet, sortierte die Goten nach Ost und West. Viele heutige Historiker lehnen diese Bezeichnungen ab und sprechen etwa lieber von Visi-Goten. Aber im allgemeinen Sprachgebrauch sind die »Edelmänner« nun einmal »Westgoten« geworden und geblieben.
Historisch aktenkundig wurden sie zunächst, als sie selbst von den Hunnen bekriegt und besiegt wurden und deshalb ihrerseits immer wieder in römische Gebiete einfielen, um zu überleben. Ende des 4. Jahrhunderts brachen die Westgoten unter ihrem Heerführer Alarich endgültig auf und begannen eine lange, gefahrvolle Wanderung. Erst zogen sie gegen Konstantinopel, die Metropole des oströmischen Reiches. Nach grimmigem Zusammenprall wichen die Goten aufs griechische Festland aus. Anschließend kam Italien an die Reihe, erst Venetien, dann Mailand. Dazwischen lagen viele Schlachten, gewonnene wie verlorene, Friedensverträge mit den Römern und neue Gemetzel. Alles ohne Plan, wie es scheint. Es ging immer nur ums Überleben, im Kampf wie auch danach, wenn die Nahrungsmittel knapp und teuer wurden.
408 belagerten Alarichs Horden erstmals Rom, drehten gegen Tribut bei – mit vielen tausend Pfund an Gold und Silber, seidenen Gewändern, purpurnen Fellen. Im Jahr darauf plünderten sie die römischen Getreidevorräte im Hafen von Ostia. Dann, am 24. August 410, nahm Alarich Rom ein. »Der Welt strahlendstes Licht ist ausgelöscht«, schrieb der Kirchenlehrer Hieronymus. Mit Rom sei »der gesamte Erdkreis zugrunde gegangen.«
Drei Tage lang wurde die Ewige Stadt gründlich geplündert; nur die Kirchen blieben verschont. Tausende wurden erschlagen, viele kamen in Gefangenschaft, darunter Galla Placidia, die Schwester des Kaisers Honorius. Für sie war es der Beginn einer einzigartigen Geschichte von politischem Erfolg und persönlichem Leid (siehe Kasten).
GALLA PLACIDIA – DIE KÖNIGIN DES SÜDENS
Vielleicht war es ja eine Frau, Galla Placidia, die Schwester des römischen Kaisers Honorius, die der westgotischen Männergesellschaft ein ganz neues Leitmotiv vermittelte: das römische Imperium zu erneuern, statt es zu zerstören. Bei ihrer Hochzeit mit dem Gotenkönig Athaulf jedenfalls verkündete dieser das neue Ziel. Lange habe er die »Romania« durch die »Gothia« ersetzen wollen. Die Gespräche mit Galla Placidia hätten ihn eines Besseren belehrt.
Dabei war der Beginn dieser gallisch-römischen Beziehung denkbar schlecht. Galla Placidia gehörte nämlich zur Beute des Gotenkönigs Alarich, als der im Jahre 410 Rom plünderte. Als Alarich bald darauf starb, übernahm sein Schwager Athaulf das Goten-Kommando und damit auch die Geisel Galla. 414 heiratete »die Königin des Südens den König des Nordens«, wie Zeitgenossen jubelten. Athaulf trug demonstrativ römische Generalsuniform und überhäufte seine Gattin mit Geschenken aus der römischen Beute. Bald wurde ein Sohn geboren und Theodosius genannt, nach dem römischen Kaiser mit dem Ehrentitel »Freund der Goten«. Doch das Glück währte nicht lange.
Noch im Wochenbett starb das Kind, wenig später wurde Athaulf ermordet. Galla Placidia musste zurück nach Rom und dort den Heerführer Constantius ehelichen. Den konnte sie zwar nicht leiden, aber ihr kaiserlicher Bruder hatte sie ihm schon vor Jahren versprochen. Sie bekam zwei Kinder. Der Sohn, Valentinian III., wurde mit sechs Jahren Kaiser; seine Mutter regierte für ihn fortan das weströmische Reich. Doch ihre zweite Karriere brachte wenig Freude, viel Ärger – mit Vandalen, Hunnen und dem intriganten römischen Hofstaat. 450 starb sie und wurde in Rom beigesetzt – nicht im sogenannten Mausoleum der Galla Placidia in Ravenna, das sie vermutlich selbst bauen ließ und das dank seiner herrlichen Mosaiken seit 1996 zum Unesco-Welterbe gehört.
Gotenherrscher Alarich
(Phantasieporträt von José Leonardo, um 1635)
ULLSTEIN BILD
Von Rom aus wandten sich die Westgoten weiter gen Süden, wollten nach Nordafrika oder zumindest Sizilien, zu den Kornkammern des
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