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Die Germanen: Geschichte und Mythos - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Die Germanen: Geschichte und Mythos - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Titel: Die Germanen: Geschichte und Mythos - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert F. Pötzl
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Ihre geschmiedeten Pfeile waren dreikantig. Sie rissen klaffende Wunden und kamen grausig heulend über enorme Strecken angeflogen – mehrere hundert Meter weit. Bis zu zwölfmal pro Minute konnte ein Schütze feuern, perfiderweise auch nach hinten. Die Holzsättel hatten vorn und hinten hohe Bögen, so dass geübte Reiter nicht herunterfielen, während sie – scheinbar sich zurückziehend – den Oberkörper nach hinten gedreht die Feinde beschossen. Diese Technik hatten die Hunnen den Kavalleristen anderer Völker voraus, zumal viele von ihnen, etwa die Sarmaten, schwere Panzer trugen, die sie unbeweglich machten. Die Hunnen dagegen kämpften ohne Rüstung. Im Nahkampf zückten sie ihr Schwert, die »Spatha«, mit langer zweischneidiger Klinge. Ihre wichtigste Waffe war jedoch der Bogen. Er war alles andere als primitiv. In oft mehrjähriger Arbeit wurde er aufgebaut – aus Horn, Knochen, Sehnen, unterschiedlichen Hölzern und Fischgrätenleim. Diese Komposittechnik verlieh dem Bogen seine Flexibilität. Denn der Reflexbogen war noch im ungespannten Zustand gespannt – nur in die entgegengesetzte Richtung. Schon in Gräbern aus dem 3. Jahrtausend vor Christus wurden Reste von Reflexbögen um den Baikalsee gefunden. Die technische Besonderheit bei den Hunnen war seine Länge: Während die Bogen der Skythen nur 80 Zentimeter lang waren, hatten die hunnischen mit 130 Zentimetern eine weit höhere Durchschlagskraft. Für die Handhabbarkeit vom Pferd aus sorgte deren asymmetrische Form: Der Teil unterhalb des Griffs war kürzer als der obere.
    Was aber bewirkten die mit solchen Spezialwaffen gerüsteten Scharen wirklich? Michael Kulikowski, Spezialist für spätantike Geschichte an der Pennsylvania State University, hält die Dominotheorie für reichlich simpel, »wonach die Hunnen die Alanen umgestoßen haben, die ihrerseits die Greutungen veranlassten, die Terwingen in die Römer zu schubsen«.
    In der Tat schnappten die Hunnen nicht Wölfen gleich nach den Fersen fliehender Goten, wie Ammian es darstellte. Als der große Goten-Treck nämlich 376 am Ufer der Donau anlangte, musste das Volk monatelang warten, bis der ferne Kaiser ihm Asyl gewährte. Man lagerte dort mit allem Hab und Gut, mit Frauen und Kindern – aber trotzdem erwähnen die Chronisten keinerlei Überfälle der Hunnen. Nein, die Goten wussten, dass der Kaiser Ostroms sie gern aufnehmen würde – hatten sie ihm doch billige Rekruten zu bieten. Und so waren, meint Kulikowski, die Hunnen vielleicht doch nicht Grund für den Aufbruch der Goten, sondern bloß Katalysator. Der Antikenforscher glaubt, dass es vielmehr die Römer selbst waren, die die Barbaren anlockten. Ein Usurpator wechselte den anderen ab an der Spitze des Reichs, ein Bürgerkrieg folgte dem nächsten. Zum Beweis, dass die Zeitzeugen diesen Zusammenhang auch schon sahen, zitiert er Ammian: Die Barbaren »waren wie wilde Tiere, die sich angewöhnt haben, ihre Beute aufgrund der Nachlässigkeit der Hirten zu stehlen«.
    Außerdem machten die Barbaren merkwürdigerweise gemeinsame Sache. Als die Goten ein Jahr später gewaltsam in Thrakien einfielen und die Provinz verwüsteten »mit Totschlag und gewaltigen Bränden«, waren Hunnen und Alanen mit von der Partie. Rund 30 Jahre später war die Situation noch verworrener. Da führte ein gewisser Radagaisus – ein Gote, vermutlich ostgotischer, greutungischer Herkunft – ein riesiges Heer nach Oberitalien. Angeblich flohen sie alle vor den Hunnen, die ihr Kerngebiet noch weiter nach Westen, ins Große Ungarische Tiefland, verlegt hatten. Die germanischen Bewohner stimmten quasi mit den Füßen ab, so Heather: »Zu versuchen, eine neue Existenz auf römischen Boden aufzubauen, erschien als weniger große Gefahr, als fortan unter hunnischer Vorherrschaft zu leben.« Ironischerweise wurden Radagaisus’ hunnenflüchtige Goten von einer Armee gestoppt, zu der auch wieder Hunnen gehörten. Der weströmische Heermeister Stilicho hatte die Krieger von deren Herrscher Uldin angeheuert; bei Florenz wurde Radagaisus hingerichtet.
    Ebenjener Uldin fiel kurz darauf, 408, selbst ins Oströmische Reich ein. Konstantinopel versuchte, den Hunnen-Fürsten mit Tributzahlungen zu besänftigen. Aber Uldin lehnte das Angebot in großer Selbstherrlichkeit ab, »indem er«, wie ein Zeitzeuge berichtete, »auf die aufgehende Sonne zeigte und erklärte, dass es für ihn, wenn er es wünsche, leicht wäre, jedes Gebiet dieser Erde zu unterwerfen, das von diesem

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