Die Germanin
sie nach dem Willen ihres Vaters gefallen sollte. Der schmalbrüstige Blonde im kurzen Mäntelchen war wohl Gaius, der Adoptivsohn des Feldherrn, der sich Germanicus nannte. Der andere, schwarzlockig, rundgesichtig, untersetzt, goldene Spangen an der Tunika und die Hände voller Ringe, konnte dann nur Drusus sein, der leibliche Sohn. Die beiden machten sich wohl über sie lustig: ein dünnes Mädchen im zu langen Gewand, das stolperte und beinahe hingefallen wäre. Sie tat den Mund auf und brachte kein Wort hervor.
»Fang an!«, befahl ihr der Vater ungeduldig.
Die Tränen saßen so locker, dass sie sie kaum zurückhalten konnte. Aber die Furcht, die beiden jungen Römer würden in Hohngelächter ausbrechen, gab ihr die Kraft, sich zusammenzureißen.
Sie schluckte ein paar Mal, holte tief Luft und begann.
»Wie könnte der Väter, wie des Quiritenvolkes Bemühen…«
Schon nach dem ersten Vers nickte Tiberius wohlwollend und ermutigend. Klang ihre Stimme anfangs krächzend und schrill, wurde sie bald fester. Es gelang ihr sogar, unter den »toten« Worten diejenigen zu betonen, die ihr Priscus als besonders wichtig bezeichnet hatte.
Dann jedoch, ausgerechnet an der Stelle, die der Dichter den Taten des vor ihr stehenden Kriegshelden widmete, versagte ihr Gedächtnis.
»… herrlich zu schauen, wie im Schlachtengewühl
er Männer… Männer…«
Sie wusste nicht weiter und blickte verzweifelt um sich.
Ihr Vater starrte sie an und ballte die Faust, als wollte er die fehlenden Worte hervorzwingen. Drusus kicherte und äffte sie nach: »Männer… Männer…« Tiberius lächelte nachsichtig.
Da hörte sie plötzlich im Flüsterton: »… mit mächtigen Schlägen fällt… mit mächtigen Schlägen…«
Es war Gaius. Sie sah ihn an und er wiederholte den Vers, den Mund verziehend, um ihr die Worte deutlich zu machen. Es war die Rettung. Schnell fand sich Nelda wieder hinein und fuhr fort bis zum Ende.
»Das war ja wirklich eine kostbare Gabe, mein lieber Segestes«, sagte Tiberius, nachdem er ihr Beifall geklatscht hatte. Dann wandte er sich an seine Helfer, die noch nicht verteilte Geschenke in ihren Körben hatten. »Ich hoffe, wir haben eine ebenso kostbare Gegengabe für die kleine Prinzessin.«
In einem der Körbe fand sich eine Halskette mit Goldmünzen und Perlen, die Gaius Nelda anlegte. Sie spürte seine feuchten Finger an ihrem Halse und ein Schauer durchlief sie.
»Kann man auch mit dir reden?«, fragte er. »Oder hast du die Verse nur auswendig gelernt und verstehst sie gar nicht?«
Er hatte ein hübsches Gesicht, aber sein Lächeln, das zugleich liebenswürdig und hochmütig war, gefiel ihr nicht.
»Ich verstehe alles«, sagte sie trotzig. »Ich bin nicht dumm. Ihr braucht euch nicht über mich lustig zu machen.«
»Verzeih. Es war nicht so gemeint. Drusus ist ein Spaßvogel, der über alles Witze reißt. Mir kannst du aber nichts vorwerfen. Ich habe dir geholfen.«
»Das war nicht nötig. Ich hätte allein weitergewusst.«
»Dann bitte ich auch dafür um Verzeihung.«
»Schon gut.«
»Ich musste daran denken, wie es früher auch mir erging, wenn ich Gedichte aufsagte.«
»Wie erging es dir denn?«
»Ich bin auch oft stecken geblieben.«
»Mir ist das heute zum ersten Mal passiert.«
»Oh, bitte verzeih…«
»Warum bittest du eigentlich dauernd um Verzeihung?«
»Ach, tue ich das? Ich will nur höflich zu euch sein, weil ich zum ersten Mal in Germanien bin. Man sagte uns, dass hier alle schnell beleidigt sind und wütend werden.«
»Wir sind nur beleidigt und werden wütend, wenn man auf uns herabsieht.«
»Verzeih…«
»Schon wieder?«
Jetzt mussten sie beide lachen.
Auf der Wiese begannen die jungen Cherusker mit ihren Kampfspielen. Brun, der Festordner, eilte geschäftig hin und her und traf die notwendigen Vorkehrungen. Er ließ Bänke herbeitragen, damit der Feldherr, die hohen Offiziere, die Gaufürsten und Sippenältesten Platz nehmen konnten. Die vorwiegend aus Italien und Südgallien stammenden Legionäre und das einfache Volk aus der Umgebung standen im weiten Kreise oder lagerten sich im Gras.
Anfangs kämpften die Cherusker allein. In dichten Haufen rannten die jungen Männer, jeder nur mit einer Hose bekleidet, quer über die Wiese auf einen Baum zu, der das Ziel war. Die Legionäre amüsierten sich über das Gedränge und die unvermeidlichen Stürze. Dann wurden Speere gebracht und der beste Werfer war zu ermitteln. Nun machten auch einige Gallier mit und einer
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