Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)
wo war die Kunst, die solches wiedergeben konnte? Mit Händen malte man und nicht mit der Seele; aber die großen Werke kamen aus dem Herzen.
So war ihr die alte Übung kein Ziel mehr, ein Zeitvertreib bloß der Wartenden. Sie malte mit geschickten Händen und fleißigen Augen, zumeist Kopien wie in frühern Zeiten und auch kalligraphische Stücke. Ihre Gedanken aber gingen über das Werk der Hand hinaus und forschten in den Geheimnissen ihres neuen Lebens, und ihr Herz drängte nach dem wahren Ziel, das von Monat zu Monat sich hinausschob.
Schlatters Briefe verloren den glücklichen Ton, und die lieben und zärtlichen Worte vermischten sich mit zornigen Anklagen gegen Widersacher und Schicksal, die ihn mit einem vorgemalten und heimtückisch immer wieder entzogenen Glück als einen zweiten Tantalum zur Verzweiflung brächten. Das war nicht immer ein herzerfreuendes Lesen wie früher. Fast mit Bangen sah Anna oft diesen Briefen entgegen, und wenn sie antwortete, mußte sie sich zusammennehmen, um heiter und gläubig zu erscheinen und nichts merken zu lassen von der eigenen Qual; denn sie schämte sich ihrer Sehnsucht und daß ihr das Warten so lange wurde. Sie schämte sich der dumpfen endlosen Nächte, da sie mit klopfendem Herzen und wachen Augen in den heißen Kissen lag, und der trüben Morgen, da sie matt mit schlaffen Gliedern an ihre Arbeit ging. Sie wollte es sich selbst nicht zugestehen, daß es Stunden gab, wo ihre Liebe wie ein Fieber in ihr war, daß sie nach Zärtlichkeiten dürstete wie ein Baum unter brennender Sonne, dem der Regen lange gefehlt, und wiederum Stunden, schlimmere noch, da die Mutlosigkeit über sie kam und sie kleingläubig wurde an allem. Ach, dazwischen waren ja wieder die hellen Tage, wo sie ihre Liebe stolz und vertrauensvoll trug wie eine Krone und ihr die Zukunft erschien wie ein glänzend geöffnetes Tor, und Augenblicke atemraubenden Glückes, da ihr das Herz stillstehen wollte vor irgendeinem Zukunftsbilde, das sich plötzlich mit überwältigender Gegenwart in ihre Vorstellung drängte. Wer konnte also sagen, daß sie nicht froh war in ihrem Glück, und sicher?
Aber als der Frühling kam, wich sie seinem Jubel aus. Sie fürchtete sich beinahe vor dem Lindenhof, dessen freudige, schnellreifende Herrlichkeit sie im Vorjahr so innig mitempfunden hatte. Lieber ging sie nun vors Tor hinaus an einen stillen Seewinkel, wo das neue Leben zart, mit einer tröstlichen Heiterkeit und ohne Überschwang sich zeigte, wo über noch winterlich blassen Gewässern die letzten Möwen kreisten und kleine schwarze Entlein ernsthaft zwischen totem Schilf durchruderten. Hier war der Lenz kein stürmisches Beginnen. Nur allmählich und mit schier zagen Gebärden tauschte sich der Winter an den Frühling, der sachte mit lichtem Grün und freundlichen Schlüsselblumenkränzen aus dem toten Herbstgras auftauchte. Anna tat dieser stille Übergang wohl, dieses prunklose Ineinanderschmelzen zweier Zeiten, das ihr erschien wie köstliche Gewähr aller Dauer und Kraft des Bestehenden. Die Gesetzmäßigkeit der ewigen Wiederkehr, das war das Große, daran man sich klammern konnte und fest daran halten, wie an der ewigen Güte Gottes. Nur daran nicht glauben, daß es Umsturz gab und Wende und ein sinnloses Aufhören; denn es war häßlich und zerstörte alles und nahm jede Kraft und den verläßlichen festen Boden, daß die Füße straucheln mußten.
Immer mehr suchte sie die einsamen und feierlichen Orte auf, die ihr mit einer kühlen Beschwichtigung über das heiße Herz gingen. Sie liebte es, mit still gefalteten Händen unter den ernsthaften Gewölben des Großmünsters zu sitzen, hart neben einer der schweren Sandsteinsäulen, die eine beruhigende Feuchte ausströmten. Beschützend umhüllten sie die schweren Falten des schwarzen Kirchengewandes, und die feine weiße Leinenhaube umspannte mit stiller Gelassenheit die heiße Stirn. Sie dachte nicht mehr daran, sich über die geistlosen Äußerlichkeiten der Predigt zu ärgern. Der Gleichfluß des grauen Redestromes, der sich von der Kanzel ergoß, tat ihr wohl, wie der Anblick all der stillen schwarzen Gestalten rings ihr wohl tat, all der Frauen, die in ihrer einförmigen Tracht wie Schwestern erschienen, von einem einzigen gemeinsamen Schicksal bestimmt. Das alles war wie eine Beruhigung und gab eine weiche, ein wenig süße Resignation ins Blut, die besser war als die heißen und hellen Stunden des Glückes, von denen sie zum voraus wußte, daß sie
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