Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)
Pflichten größer und fester umgrenzt, da Elisabeth ihren Beruf gefunden, und das tat gut, der feste Wirkungskreis, gleich einer festen, hilfreichen Hand, die zur Ruhe zwingt.
Zum ersten Mal wollte der Frühling im Haus zum grauen Mann Widerhall finden. Aber Anna ließ es sich dabei nicht genügen und suchte ihn auch draußen auf, wo er sich mit Vogelsang und jungem Grün darstellte.
Auf dem Lindenhof waren nun die Tage schon weich. Eine grüngoldene Luft lag unter den breiten Ästen der mächtigen Bäume, wenn die Sonne durch die zarten Blättlein fiel, und feine Schatten zeichneten sich auf dem weiten Plan; sie waren durchsichtig und grün wie die Luft, und wann man darüber hinschritt, vermeinte man durch grüne Kronen zu schweben wie die Vögel, die mit den hellen Stimmen soviel Jubel und Sehnen in die blaue Luft verschickten. In den Gärtchen unterhalb der Mauer, die den Lindenhof wie ein Burgfelsen über die Stadt erhob, blühten die ersten gelben Büsche mit zarten, rasch welkenden Sternen, und ganz zu unterst eilte die Limmat vorbei und zerriß mit grünen Wellen die bunten Spiegelbilder der Häuser am Stad.
Das alles hatte Anna auch früher gesehn; aber die zarten Schatten und vergänglichen Lichter, die schnellwelkenden Blümlein und enteilenden Wellen hatten ihr jeweilen Bedrängnis gebracht und Trauer, wie alles an dieser seltsamen rastlosen Jahreszeit, die man nirgends fassen konnte und niemals begriff, die mit tausend holden Verheißungen an uns vorbeirauscht, die ist wie ein hastiger, überstürzter Trunk, der die Kehle durstig macht und den Kopf heiß.
Jetzt aber tat sie ihr wohl, diese enteilende Zeit mit dem jubelnden Drängen nach der Erfüllung.
Die zarten Lindenblättchen — wie bald waren sie dunkel und dicht, und wann erst von den feinen Spitzen ein gelbes Schimmerchen nach den Rispen zufloß — ja dann! Und die gelben Sternlein dort unten, bald fielen sie ab, und kleine grüne Kugelchen erschienen an ihrer Statt; aber wann diese erst groß waren und glänzend und von einem schweren durchscheinigen Rot — ja dann — dann ging auch ihr Weg dorthin, wo die rastlosen grünen Wellen strebten, unablässig und sicher.
Aber manches sah sie auch, was sie früher nicht beachtet hatte. Oft schaute sie nun den jungen Müttern zu, die mit ihren Kleinsten auf dem Arm da heraufkamen. Mit leise wiegenden Schritten gingen sie der breiten Mauer entlang, hin und her, immer der Sonne nach. Und alle neigten sie die lächelnden Gesichter tief auf die runden flaumigen Köpflein nieder, als ob die ganze Welt draußen nicht da wär’, und alle waren sie schön und hatten einen seltenen Glanz in den Augen.
Das hatte sie früher nie gesehen, dieses Versunkensein und stille Begnügen.
Mit zärtlichen Augen sah sie ihnen nach, folgte jeglicher Bewegung und erhaschte jeden leisen Laut jenes ewigen Liedes, das zwitschernd und zart hin-und herwebt zwischen Mutter und Kind. Sie dachte an Enneli, des Bruders junge Frau. Seit einiger Zeit ging sie mit frohen, andächtigen Augen einher und war etwas Reifes und Stilles in ihr Wesen gekommen — im Spätsommer würde auch sie so ein Kleines in den Armen halten. Ja, und wann der Sommer sich zum andern Mal neigte … Ein Schauer lief ihr über die Haut, und ihr Herz erbebte. Allmächtiger, das Wunder, das Wunder! Solches vermochte die große Liebe: aus zweien eines schaffen, das beide vereinigte und keinem gleich war, urvertraut und doch so neu, daß nichts auf der Welt ihm ähnlich, eine Vollendung, heißem Wollen und Wünschen ein neues und besseres Ziel. Das Wunder!
Aber dann fiel ihr ein Wort der Marquise ein, und sie sah das edle Gesicht wieder, wie sich ein scharfer und kalter Zug zwischen die klugen Augen legte, derweil sie sprach: „Leibeskinder, eine Lotterie, denn keiner weiß, welch trübe und unerfreuliche Fäden von Urväterzeiten her heimtückisch in dies neu Gewebe schießen. Ein zufällig, vergänglich Ding, wie alles Fleischliche: aus schwacher Stunde entstanden und der schwachen Stunde verfallen von allem Anfang an. Aber die Geisteskinder, aus Kraft und Willen geboren und zu Kraft und Dauer bestimmt, die sind nicht zufällig und vergänglich nicht, die sind’s wohl wert, daß man alles hingibt für sie.“ Und dann hatte sie sich ans Clavecin gesetzt und eine Melodie gespielt, süß und heiß erst, aber schließlich mit einem stillen, wehen, entsagenden End. Und als Anna wehmütig und mit stillen schmerzlichen Tränen gelauscht, hatte sie
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