Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)
gelächelt: „Siehst du: Rühren, erschüttern und wehmütig Verzichten lehren, das wollte, der dies Lied erdacht, und rühren, erschüttern und zur stillen Entsagung führen wird er, solange es Töne gibt und Hände, solche zu rühren, und Herzen, solche zu verstehen. Und so auch du: Jeder tiefe Gedanke und groß Gefühl, so du mit kunstreicher Hand im Bild festhältst, wird jeder andere nach dir, dem dein Werk zu Augen kommt, so denken und so fühlen müssen, wie du es gewollt.“ Wie hatte Anna damals die Worte aufgenommen, mit glücklichen und gläubigen Sinnen, und hatte ihr Ziel höher gesteckt über dem freien Weg.
Aber heute wußte sie, daß es anders war. Ihre Geisteskinder, verkümmert, von tausend Zufälligkeiten bestimmt, von tausend Schranken beengt, so waren sie entstanden, und der Gedanke schreckte sie, daß diese halbgeglückten Geschöpfe, denen die beste Kraft ihres Herzens fehlte, Dauer haben würden und Bestand, wann sie längst nicht mehr war und mit ihr jene andern, vollkommeneren Seelenkinder gestorben waren, die sie zur Welt zu bringen weder Kraft noch Macht gehabt, noch Gelegenheit.
Gelegenheit? Es durchzuckte sie wie ein schlechtes Gewissen: Hatte sie sich ihr nicht geboten und wie kostbar! Wohl, wohl; aber so spät, da hatte sie sich schon müdgekämpft an den vielen Schranken und müdgedacht an den ungeborenen Werken, und inzwischen hatte das Schicksal entschieden, und Gott hatte es anders mit ihr gemeint.
Eine der jungen Frauen setzte sich neben Anna auf die breite Steinbank, um ihrem Kleinen die Milch zu geben. Sie sah zwei rosenrote Händchen, die mit lieblicher Unbeholfenheit in der Luft spielten, und sah ein rundes Köpflein mit weißlich schimmernden Härchen dran und zwei glänzende Augen unter lustig aufgebogenen Brauen. So ein Geschöpflein, und das sollte zufällig sein und vergänglich! Ja, die Marquise, die aus einer lieblosen Ehe ein undankbares Kind empfangen, das die andersgläubige Mutter schmählich verließ, die konnte wohl so reden, aber das Weib da, wann sie die gefragt hätte: „Wie hast du dein Kind gefunden, da du’s zuerst sahst?“ würde sie ihr nicht antworten: „Grad so, wie ich mir’s gewünscht und gedacht, nur schöner noch und herziger und viel klüger!“ Und wie war das mit der Vergänglichkeit? In wenig Jahren, dann würde das kleine Dirnlein schon groß sein und würde da herumlaufem wie jetzt die vielen Mädchen taten drüben in der andern Ecke des Platzes; sie hielten sich bei den Händen und tanzten mit mehr Würde denn Ausgelassenheit ringsherum und sangen die lieben alten Verslein, solche man unten in der Straße nimmer hören durfte. Aber an diesen Frühlingstagen machte selbst der Profos mit einem versteckten Lächeln einen Bogen um den Lindenhof und ließ das Jungvolk oben nach Herzenslust zwitschern und jubeln wie die Vögel, die bis anhin auch keine Sittenmandat nicht erreichen gekonnt … Ja, so würde auch dieses Kindlein singen, und wieder um ein paar Jahr später, da würde es heraufkommen mit lächelnden Augen und wiegenden Schritten und würde selber so ein Geschöpflein in den Armen halten, das aus lustigen Augen in die Welt lacht und soviel schöner und herziger und klüger war, als man je gehofft … Und so ging es weiter und weiter, und wann einst das Rathaus dort unten alt und gebrechlich dastand, zermürbt die festen Mauern, die heut einer Ewigkeit zu trutzen vermeinten, und zerbröckelt und vernichtet die Heldenköpf ringsherum, da würde irgendwo ein junges Menschlein mit ebendiesen glänzigen Augen in die Welt schauen, unter ebenso lustig aufgebogenen Brauen hervor und im warmen Herzchen ein Tröpflein von dem Blut tragen, das jetzt durch diese kleinen Fäustchen schimmerte, die ganz nahe bei ihr mit lieblicher Unbeholfenheit in der Luft spielten. So also stand es um die Vergänglichkeit des Fleisches, daß kein Tod dazwischen Platz fand, dieweil sich überall das Leben erneuerte unter dem großen Wunder der Liebe.
Oh, er hatte recht gehabt damals, wozu den Tod malen, wer die Liebe hat! Denn Liebe ist ewiges Leben. Und Liebe ist Anfang, Erfüllung und Ziel.
Auch dies lernte sie erst jetzt erkennen, in diesem seltsamen Sommer, da ihre wachen Sinne überall im Leben der Natur die heilige Stimme der Liebe gewahrten. Der Sommervögel schimmerndes Gaukelspiel und der kleinen Fische hastige Züge grabenwärts und des Finkleins durchsichtiger Jubel und der Amsel verschleierter Sang, ach, und all der Duft und tausend
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