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Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)

Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)

Titel: Die Geschichte der Anna Waser (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maria Waser
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wollen; dann aber lehnte er sich wie ermattet gegen den Torpfosten und neigte mit einer müden Gebärde das schmale Gesicht, darüber ein breites Blutband niederfloß. Zart und gebrochen, ein verhetzter Knabe, stand er vor der älteren Schwester. Anna fragte nicht weiter. Sie faßte ihn leise unter dem Arm und führte ihn von der schlimmen Stelle weg. Im letzten verborgenen Winkel des Gäßchens, das unweit vom Waserschen Hause mit einem blinden Ende in die Hauptgasse führte, trocknete sie dem jungen Bruder das Blut von den Wangen, verband mit ihrem Tüchlein die Stirnwunde und zog ihm das Barett so tief als möglich über den Verband. Er ließ alles mit sich geschehen wie ein Kind, ließ sich von Anna im Schatten der Häuser nach der Wohnung und über die vielen Treppen hinauf nach seinem Dachstübchen geleiten, wo er erschöpft auf sein Lager hinfiel.
    Schweigend besorgte Anna den Bruder, der mit geschlossenen Augen wie erloschen dalag; während sie aber die Wunde auswusch und den festen Verband anlegte, gewahrte sie, daß die Verletzung geringer war, als sie geglaubt hatte, und daß sie des Bruders Erschöpfung nicht erklärte. Da mußte etwas anderes vorliegen, eine Wunde tieferer Art, die ihn solchermaßen niederwarf.
    Sie setzte sich an sein Bett und forschte in dem farblosen Gesicht, das in seiner Hilflosigkeit unter der weißen Binde seltsam an den kleinen Heinrich erinnerte, an den Heini im blauen Kittelchen und Seidenlöcklein, mit dem sie die Sterne betrachtet und der so innig an ihr gehangen. Wie lang war der Weg von dort und wie ganz hatte sie ihn verloren, über ihrer eignen Welt, wo war es nun hinverirrt, das große seltsame Kind? In stillem Erbarmen und wie abbittend streichelte sie seine schmalen Hände. Sie dachte daran, wie verändert sein Wesen in der letzten Zeit, wie er oft mit verträumten fernen Augen herumgegangen, darin etwas Besonderes glänzte, und wie er allezeit mit dem jungen Beat Holzhalb, dem schwärmerischen Studenten, zusammengesteckt hatte und wie man sie oft in der merkwürdigen Gesellschaft eines fremden deutschen Gesellen gesehen, über dessen Herkunft man nichts wußte und dessen Umgang ihm der Vater zu mehreren Malen untersagt hatte.
    Als ob Heinrich ihren stillen Gedanken gefolgt wäre, öffnete er plötzlich die Augen angstvoll: „Der Vater,“ sagte er leise mit einem schmerzlichen Zucken um den bartlosen Mund, „der Vater, was wird er sagen?“
    Anna drückte beruhigend seine kalten Hände: „Ich werde ihm erzähien, daß wir beisammen waren, als du den ungeschickten Fall tatest,“ sagte sie ernst, und da er mit einem erlösten Blick dankte, fuhr sie fort: „Zum Essen brauchst nicht zu kommen, ich bring’ dir nachher einen Tee, das wird dir gut tun; ich will auch dafür sorgen, daß die andern dich nimmer aufsuchen heut abend; aber beim Frühstück wirst du wieder dabei sein.“
    Sie erhob sich ruhig und verließ mit dem Öllämpchen das Zimmer, den Bruder der Dunkelheit und den eignen Gedanken überlassend. Als sie später wiederkehrte, fand sie ihn immer noch in derselben Stellung, matt und teilnahmslos. Widerwillig nahm er den warmen Trunk zu sich und legte sich alsobald wieder zurück mit krampfhaft geschlossenen Augen.
    Anna betrachtete ihn eine Zeit lang, dann sagte sie gelassen: „Damit ist es nicht getan, Heinrich, mit dem Augenschließen und Schweigen und Nichtgestehenwollen. Du hast’s ja eben gesehn: genau anschauen muß man eine Wunde und hineingreifen und sie auswaschen, ehe man verbinden kann und heilen.“
    Einen Augenblick sah er sie entsetzt aus aufgerissenen Augen an. Dann deutete er mit abgewandtem Gesicht nach dem Tisch hinüber und zog ein Schlüsselchen hervor und reichte es ihr mit unsicherer Hand. Anna schloß die Schieblade auf. Viel überschriebenes Papier lag darin, obenauf verschiedene kleine Zettel mit wirrem, hastigem, schier unleserlichem Gekritzel, daneben ein großes sauberes Heft, sorgsam beschrieben, offenbar eine Reinschrift nach jenen Entwürfen. Dieses nahm sie auf und führte es nahe an das flackernde Lämpchen. Sie las:
    „Siebenzehente Inspiration, am 17.Dezembris Anno 1709.
    Ein fremder, unstäter Tag. Am Morgen ging die Sonne mit einem schier mörderischen Feuer auf, darvon die schneelose Erde fast in einen Brand geriet. Hernach erschienen schwere Wolken mit gelben Schößen, so den ganzen Tag einen schweren und herzbedrückenden Dunst in die Stadt warfen. Zur Mittagsstund erhielt ich von G. das Zeichen, sollten uns zur

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