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Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)

Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)

Titel: Die Geschichte der Anna Waser (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maria Waser
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doch neue Enttäuschung und neue Qual nach sich führten.
    Die Vakanzen kamen und vergingen, aussichtslos, und in die verregneten Gassen schlich der bleifüßige November. Im Waserschen Hause sprach man wenig mehr von Schlatter. Nur Marias wissende Augen redeten: „Ja, ja, ich weiß, wie das tut, das Warten: wie wenn man einem einen Schraubstock in die Herzgrube setzte und zuschraubte, langsam und ruckweise, oder wie wenn einer das Herz anfaßte, an beiden Enden, und es sachte auseinanderzöge, bis es reißen will.“
    Auf der Amtmännin Stirn lag wieder die alte Betrübnis; aber sie schwieg, und nur selten strich sie mit besorgter Hand über Annas schmale Wangen: „Solltest dich ausruhen, Kind, daß nicht so blaß wirst; schlechte Nächt, das bringt eine müde Haut und macht früh alt.“ Und die Leute aus der Stadt kamen wieder mit Aufträgen, und keiner fragte, wie lange sie noch im Vaterhaus bleibe. Es war etwas in der Luft wie ein Zweifel und Mitleid, das sich erstickend um sie zusammenzog.
    Aber das war nicht recht und nicht verdient mit dem Mitleid. Stand ihre Liebe nicht groß da und stark wie immer und waren des Liebsten Briefe, wenn auch vielleicht um etwas weniger zart und ehrfürchtig denn früher, nicht zuversichtlich und so voller Glut? Nur das Warten war schuld daran, daß sie feige schien und wehleidig und wie ohne Glauben, das untätige, unsichere, zermürbende Warten. Ja, wenn sie eine Aufgabe gehabt hätte, ein tüchtiges, anstrengendes Werk, dann hätte sie es wohl besser ertragen, dann wär’ sie wohl tapferer gewesen, und kein Mitleid hätte mit klebrigen Fingern an sie gerührt.
    Eine Aufgabe! Anna flehte darum, und plötzlich stand sie auch vor ihr, schneller als sie gehofft und anders.
    *
    Eines Dezemberabends beim Zunachten kehrte sie von einem Gang vor das Kronentor zurück. Noch lag kein Schnee, der Himmel war wolkenschwer mit verirrten gelblichen Lichtern, und der Graben drohte schwarz herauf. Anna beschleunigte ihre Schritte und suchte den kürzesten Weg, um der wachsenden Dunkelheit möglichst zuvorzukommen. Solchermaßen geriet sie unbedachtsam in eine enge, übelriechende Gasse, die sonst das Frauenzimmer, sonderlich zu solcher Stunde, mied. Sie gewahrte indes in der Befangenheit ihrer Gedanken den Irrtum erst, als sie schon mitten zwischen den nahegerückten Mauern der schmalen Häuser stand, die oben in schwindelnder Höhe mit schiefen Giebeln flackerige Zacken in den Abendhimmel schnitten. Links und rechts lauerten schmale Blinzelfenster und neben engen Türen weite runde, bald ängstlich verschlossene, bald schwarzgähnende Torbogen.
    Unwillkürlich drückte sie die schwere Pelzmütze tiefer in die Stirn und folgte mit raschen, lautlosen Schritten dem schmalgeführten, schattendunkeln Pfad. Er lief gradwegs auf einen altersschwachen, turmähnlichen Bau zu, der sich, gewaltsam den Blick verrammend, in das Gäßlein vordrängte, dort, wo es in scharfem Winkel abbog.
    Ein wenig neugierig und mit einem kleinen Gruseln betrachtete sie das unheimliche Haus, als plötzlich hinter einem seiner spitzbogigen Fensterlein ein mattes Licht aufsprang, dem alsobald ein seltsamer langgezogener Schrei von einer hohen, fast unnatürlichen Frauenstimme folgte. Anna blieb stehen und lauschte beklommen. Einen Augenblick wurde es ganz still hinter dem matten Fenster, nur der Widerhall klagte im engen Gäßchen, als ob der irre Laut alle Grauen dieses unheimlichen Winkels geweckt hätte. Dann folgte ein lebhaftes Stimmengewirr, das zu einem Männerstreit anschwoll und sich bald in lautem Tumult treppabwärts zu bewegen schien, der hohen Tür zu, die über einer unwahrscheinlich steilen Treppe in das Gäßchen mündete.
    Erschreckt flüchtete sich Anna in den niedrigen Torbogen, der angesichts des Hauses über schwarzgeöffnet in einen leeren Schopf führte. Kaum stand sie im schützenden Dunkel, als die Türe gegenüber aufsprang und eine schwarzumhüllte Jünglingsgestalt, von häßlichen Worten verfolgt, herausstürzte und, die schmalen Stufen verfehlend, quer über die Gasse schlug. Anna hörte unmittelbar neben sich an der Kante des Torbogens ein dumpfes, quetschendes Aufschlagen, dann folgte das leise Ächzen einer jungen Stimme, deren Ton ihr das Blut zum Herzen trieb. Sie eilte aus dem Versteck hervor und beugte sich über den Jüngling, der sich mühsam aufraffte.
    „Heinrich, du? Allmächtiger, ist es möglich!“
    Der andere war zuerst erschreckt zusammengefahren, als ob er hätte fliehen

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