Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)
oder dann muß man vieles durchgemacht haben — sehr viel; dann lernt man’s, auch wenn man nicht absonderlich stark ist in seinem Willen.“ Die Worte gingen Anna tief ein — wie oft sollte sie später daran denken und wie lang war der Weg bis zu deren völligem Erfassen! Und nun nahm sie sich zusammen und arbeitete, daß Herr Morell staunte ob ihrer Charakterstärke. Aber als sie gegen Abend den Obstgarten verließ, war sie müde wie nach einem aufreibenden Kampf, und sie fühlte wenig Freudigkeit in sich. Einmal konnte man es wohl, sich zusammennehmen, aber nicht für lange. Nun strömten die Sorgen um Giulio mit doppelter Wucht über ihr zusammen und trieben ihre Füße.
Eilends erreichte sie die Untertorbrücke. Da trat ihr aus dem Schatten des Blutturms ein kleiner Junge entgegen. Sie kannte ihn; es war Fischer Thürings Enkel, und oft hatte er sie und Giulio auf gemeinsamen Wanderungen begleitet, wann sie der Aare nach ein malerisches Plätzchen aufsuchten. Giulio liebte die Kinder, und sie hingen ihm herzlich an. Der Kleine streckte ihr schon von weitem einen Brief entgegen. Hastig öffnete sie. Eine fremde Schrift. Italienisch, das mußte mit Giulio zusammenhängen. Sie las:
„Was zögerst zu lange? Dem Mutigen gehört Welt und Weib. Willst Du durchaus, daß ein anderer in Deinem Garten weidet? Deine Sache steht ja gut. Also komm, und zwar gleich; aber in aller Heimlichkeit, man hat dort Auftrag, Deine Flucht zu hintertreiben. Bei Sor Paolo fuori — Du weißt, wo wir den letzten Chianti zusammen tranken — halte Dich zunächst verborgen. Dort werde ich Dich finden. Giacomino.“
Das stand in Tinte geschrieben, klar und groß, aber die übrigen Seiten des Briefes waren mit hastigem Reißbleigekritzel gefüllt, ebenfalls italienisch. Anna erkannte Giulios Hand. Sie mußte sich auf die Steinbank unter dem Turm setzen, die Knie zitterten ihr.
„Sorellina, das ist Giacominos Brief, von dem jedes Wort mir auf der Seele brennt. Ihr sollt ihn lesen, auch der Meister, dann wißt Ihr alles, und daß ich zur Stunde, da er in Eure Hand fällt, schon weit, weit weg, viel weiter als Herrn Werners Spürsinn reicht und rasche Pferde ihn tragen können. Seit dem Morgen ist alles bereit zur Reise, deren erstes Stück die Nacht verdecken soll. Hinter dem Wald harrt der Bursche mit den Pferden, und ich will hier den Abend erwarten. Ich konnte nicht mehr zurück ins Haus, ich fürchtete, irgendwie aufgehalten zu werden. Den ganzen Tag hielt ich mich im Wald versteckt. Ich hatte Zeit, nachzudenken. Sorellina, vielleicht wartet mir nun der Tod, und das Leben ist noch so jung und schön. Könnt Ihr mit Euren klaren Augen ermessen, was es heißt, jung und heiß und sterben? Vielleicht auch Gefangenschaft. Glaubt Ihr, daß Gefangenschaft für Giulio etwas anderes bedeutet als Tod! Und vielleicht — schlimmer als alles — Doch nein: der Freund ruft. Ich werde siegen, ich werde leben und Glück und Liebe zurückerobern. Der Weg, den ich gehen muß, liegt klar vor mir. Aber etwas hält meinen flüchtigen Fuß noch auf. Sorellina, Euch möchte ich lebewohl sagen und, Gott gebe es, auf Wiedersehen! Heute abend gingt Ihr an mir vorüber. Ich sah Euch ganz nahe aus meinem Versteck, Christoph, Sibylla und Dich. Nun sitze ich hier an der Stelle, wo Du lagst zwischen den roten Blumen, und der Abendschein ging über Dich. Einmal hast Du gelacht. Dein seltsam Lachen, nicht hell und aufreizend, sondern tief und weich wie eine schwere Glocke, aber doch so erfreuend. Das hat mir gut getan. Ach, wann Du wirklich mein Schwesterlein wärest, dann würdest Du nun mit mir gehen, wie würde alles schön und klar werden unter Deinen klaren Augen!, Und wärest Du mein Schwesterlein von Anbeginn, anders wäre mein Leben geworden. Ich glaube, ich hätte ein guter Mensch sein können und ein großer Künstler … Vielleicht ist das nun alles dahin …
Dein Bildnis, Sorellina, sollst Du zu Dir nehmen, und daß keine Hand es jemals vollende, wenn nicht die meine. Ich glaube, es hätte ein großes Kunstwerk gegeben. Auch das ist nun dahin.
Ich habe viel über dieses Land gespottet. Nun, da ich gehe, fühle ich, daß es eine Stärke an sich hatte, die mir gut tat. Aber drüben ruft die Schönheit.
Grüß auch Sibylla. Meine Laute soll ihr gehören. Sie soll sie spielen und an die Stunden denken, da ich ihre schmalen Finger über die Saiten führte. Es waren schöne Zeiten. Nun kann sie es allein.
Grüß den Maestro, und er soll die Mühe sich
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