Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)
die bloßen sinnlosen Laute Euch schon dermaßen bewegen?“
Voll Staunen und Verwirrung sah Anna ihn an: „Wie wäre das möglich, Meister?“
„Wie? Das wollen wir eben sehen.“ Er zog Anna neben sich auf die Fensterbank und umschloß ihre Rechte mit seinen erregten Händen. „Ja, Ihr sollt lesen lernen in diesem Buch, das so wenige kennen, weil wenige es verdienen. Ach seht, alle Kämpfe, alle Weisheit und Kunst dieses kampfvollsten, weisesten Jahrhunderts zusammen sind nur ein Brösemlein Leben und Welt gegen dieses Buch. Denn alles ist darin, nicht die Erde allein, auch der Himmel — die ganze Welt; fürwahr, wenn die Heilige Schrift nicht wär’, ich würde es das fürnehmste aller menschlichen Werke zu nennen nicht anstehen, ja, ich nenne es so, dieweil wir ja jene als göttlichen Ursprungs erkennen!“
Herr Morell legte den Kopf zurück und schloß die Lider, derweil seine Worte über glänzende Höhen gingen und eine Welt von unbegrenzter Schönheit, göttlich groß und doch menschlich rührend, vor Annas entzückten Augen aufbauten. Das war anders, als wenn Giulio erzählte, leidenschaftlich und heiß, von seiner schönen Heimat; leise, fast flüsternd ging Herrn Morells Rede und tastend scheu, als ob sie sich nur zögernd an die ewigen Namen und herrlichsten Geschichten wagte, wie man an etwas über die Maßen Köstliches nur mit zarten und zagen Fingern zu rühren vermag.
Die Welt Homers: fremd und doch urvertraut, hell und geheimnisvoll, strahlend und furchtbar, grausam und rührend und klar und ewig, ewig wie die Natur. Die Glut der Sonne über Gefilden voll lachendem Blust, und unter nächtlichem Himmel das schwarze, schweratmende Meer und fruchtschwere Scheunen und des Kampfes wütendes Toben und der Ewigen Ewigkeit und, ach, des armen Herzens unendliche Leiden und Lust und Heimweh und Liebe und Schmerz der Vergänglichkeit — alles, alles in dem einen Namen begriffen.
Anna war, als ob sich langsam, langsam ein Allerheiligstes vor ihr auftäte, unfaßbar und doch zu ahnen, und als ob sie von weiser Hand über jene Schwelle geführt würde, die alles Kleine und Vergängliche von einem Höchsten und Ewigen trennt.
Lange saßen sie so zusammen, Hand in Hand, leise redend, lauschend und träumend, zwei zeitlos selige Menschen, und ihr Traumschifflein war noch lange nicht gelandet, als die Türe sich ungestüm öffnete. Sibylla und Christoph stürmten herein und fielen mit der aufgeregten Frage nach Giulio, der seit dem Morgen verschwunden, recht wie ein ungefüger Siein in den klaren Spiegel des Sees, in ihre andächtige Zwiesprache hinein.
Herr Morell faßte sich zuerst und suchte mit leiser Neckerei Sibyllas Erregung zu beschwichtigen: da soll sich einer die liebende Ängstlichkeit ansehen, und ob denn da schon Grund zum Fürchten sei, wann so ein Jungknab einmal den lieben Sommertag in Gottes freier Welt erhasche? Aber Anna fand sich nur langsam zurück. Sie war so weit weg gewesen, und nun stand plötzlich die Gegenwart vor ihr, Sibylla — sie zwang sich, dem Mädchen in die aufgeregten Züge zu sehen; aber da war ihr, als ob dies schon wieder eine andere Gegenwart, als ob durch das Erlebnis dieses Nachmittags die quälenden Erinnerungen schon weit abgerückt wären. Sie hatte mit dem großen Dichter die Welt aus andern Gesichten angeschaut; nun schien ihr wohl manches unwichtiger, manches verständlicher. Ja, sie fühlte auf einmal ein großes Erbarmen mit Sibylla: wie arm jene war und sie so reich und immer reicher! Sie bot der Freundin mit einem Lächeln die Hand, die diese lebhaft und mit dankbaren Blicken ergriff: „Giulio ist gewiß in den Wald gegangen, und wann wir nun über das Kirchenfeld zurückgehen und zur Aare hinab, werden wir ihn sicherlich wo auftauchen sehen, beim Dählhölzli oder am Schwellenmätteli unten.“
„Glaubst du?“ Ein Glanz ging durch Sibyllas Augen — ach, wie gern ließ ihre Hoffnung sich speisen!
Und nun schritten die drei jungen Leute, nach einem herzlichen Abschied von Herrn Morell, der es nicht unterließ, mit Anna allerlei ersprießliche Verabredungen für den andern Tag zu treffen, über die abendlich sonnige Höhe.
Sibylla hängte sich Anna an den Arm: „Weißt, heute morgen hat er einen Brief bekommen, und dann war er ganz bleich, und auf einmal sah ihn niemand mehr. Sei mir nicht böse, aber ich habe so Angst um ihn!“
Anna blieb völlig ruhig. Sie dachte an die Schmerzen des großen göttlichen Dulders und wie er wunderbar immer
Weitere Kostenlose Bücher