Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)
wieder aus Not und Qual befreit worden — wie unwichtig schien daneben Giulios kleines Verschwinden! So etwas sagte sie zu Sibylla und daß sie zuversichtlich sein solle, und dann erzählte sie von ihrem eigenen Glück: „Denkt, Herr Morell will mich Griechisch lehren, und morgen beginnen wir!“
„Und darüber freust du dich?“ Sibylla sah sie ungläubig an.
„Ach, nichts Schöneres kann ich mir denken!“
„Wie bist du so seltsam und — glücklich!“ Und Christoph fügte mit traurigem Gesicht bei: „Ihr steigt immer höher, Anna, und wir andern bleiben zurück.“ Aber dann lachte er: „Lux, wann er das vernimmt, krank wird der vor Ärgernis!“
Anna schüttelte den Kopf. „Da schätzt Ihr den stolzen Lukas zu tief ein.“
„Wann Ihr wüßtet, wie ehrgeizig er ist und wie eifersüchtig! Den Giulio könnte er umbringen, bloß weil er Euer Contrafet malen darf.“
Anna horchte erstaunt auf: „Mein Bildnis? Lux? Das wär’ ihm doch die Strafe!“
„Glaubt Ihr, glaubt Ihr das wirklich?“ Christoph strich mit der rosenroten Hand sein widerspenstiges Haar aus der Stirne, als ob er etwas verscheuchen wollte. Dann pfiff er leise vor sich hin, während die Mädchen schweigsam und ihren Gedanken nachhängend weiterschritten.
Plötzlich flammte es rot vor ihren Augen. „Seht die Feuerblumen!“ Anna lief jubelnd auf das mächtige Mohnfeld zu, das sich lodernd in ihren Weg stellte. „Hier bleiben wir ein wenig; wann Giulio vom Dählhölzli kommt, sehen wir ihn zuerst.“
Sie setzten sich alle drei auf eine kleine grüne Insel inmitten der roten Herrlichkeit.
Anna legte sich auf den Rücken, sodaß die roten Blumen über ihren Augen in der Luft hingen: „So sollt’ man sie beschauen, wann der Blauhimmel durch die rote Seide der Blätter scheint und die Kelche dunkel durchschimmern; dann erst sieht man, wie wundervoll sie sind. Ach, es ist mir doch die liebst unter allen Blumen!“
Sibylla nickte: „O ja, so rot, so glühend — und nie wird sie alt; sie stirbt, ehe sie welkt.“
„Das macht mich eben traurig daran,“ sagte Christoph nachdenklich, „dieses frühe Sterben. Die zerknitterten Blättchen, wie sie so nackt und armselig aus den grünen Hülsen kommen und kaum, daß sie entfaltet sind und ihre Glätte fängt an zu glänzen, dann fallen sie auch schon ab. Und dabei der Geruch, unangenehm, ohn Freudigkeit und bang — wie etwas Totes. Ich muß an die Verse denken von dem deutschen Dichter — Lux trägt immer ein Bändchen seiner Lieder mit sich herum — die auch so traurig sind.“ Er legte den Kopf in die Hand und fing leise zu rezitieren an:
„Meine Tage sind hinweg.
Weg sind meine Stunden,
Meiner Not und Schmerzen Zweck
Hat sich schon gefunden.
Wie ein Schaum auf wilder Flut,
Die die Wind erheben.
Wie der Rauch von einer Glut,
So vergeht mein Leben.“
„Wie ist das traurig!“ Sibylla kamen die Tränen in die Augen. Aber Anna richtete sich straff auf: „Nein, so sterben meine Feuerblumen nicht; die sind nicht bloß Rauch, den ein Wind verweht, die sind Glut und Flamme selbst, und wann sie sterben, dann sind sie auch vollendet. Ja, das ist traurig, wann eines gehen muß, bevor es am Ziel ist. Der Turm dort,“ sie wies mit der Hand nach dem jenseitigen Aareufer, wo im Abendleuchten die große Kirche stand, mächtig aufstrebend über den ungeheuern Mauern der Plattform, „das ist traurig. Weinen möcht’ ich, wann ich ihn sehe, so groß begonnen, breit und mächtig und kunstvoll mit all dem Zierat, und dann auf einmal das stumpfe, traurige Ende. Ach, der ist zu früh gestorben, wann er schon ewig dauern soll; aber die Blumen hier, ob sie auch nur einen Tag leben, wann sie am Abend die glatten glänzenden Blätter ablegen, dann sind sie auch vollendet, und ihr Tod kommt nicht zu früh; denn Gott ist gut, er läßt seine Geschöpfe nicht eher sterben, als ihre Zeit erfüllet ist. Nur Menschenwerk bleibt unfertig.“
„Glaubt Ihr?“ Christoph sah Anna erstaunt an. „Und all die Menschen, so mitten aus Arbeit und Glück weg müssen?“
„Auch dann.“ Anna faltete die Hände über den Knien und sah mit fernen Augen in den westlichen Himmel, der einen warmen Schein auf ihr stilles Gesicht warf. „Als mein kleines Schwesterchen starb, nur wenig Wochen alt war es, und es im Sarge lag, wie ein Engelein still und zufrieden, da sagte der Onkel Fähndrich zu meiner Mutter: ‚Was hast du da für ein köstlich Kindlein zur Welt gebracht, daß es Gott nach so kurzem Wallen schon
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